Chidi* war zehn Jahre alt, als ihre Mutter sie vor die Tür setzte. Lange lebte das Mädchen aus Nigeria auf der Strasse, arbeitete schliesslich bei einer reichen Familie und unterstützte mit dem spärlichen Lohn ihre geliebte Grossmutter. Die Arbeitgeberin erzählte der inzwischen 19-Jährigen von der Möglichkeit, in Spanien als Haushaltshilfe ein besseres Einkommen zu erzielen. Durch einen rituellen Schwur bekräftigt, ging Chidi einen Vertrag ein, der sie zu Treue und Gehorsam gegenüber ihrer Arbeitgeberin verpflichtete. Sie dürfe auch niemandem verraten, wer sie nach Europa bringen werde.
So landete die junge Frau in den Händen von Schleppern, die sie auf dem Weg nach Europa sexuell ausbeuteten und weiterreichten. Der «Madam», an welche sie vermittelt wurde, schuldete Chidi nun 40 000 Euro für die «Vermittler- und Reisegebühren». Chidi wurde von da an täglich auf den Strassenstrich geschickt. Einem Mann nach dem anderen musste sie Tag und Nacht Sex anbieten, auch bei eisiger Kälte stand sie stundenlang auf der Strasse. Das ganze Geld ging an die Madam. Wegen ihres Schwurs und aus Angst vor den Drohungen auch gegenüber der Grossmutter fügte sich die junge Frau. Da der Verdienst in Spanien zu gering war, beschloss die Madam schliesslich, Chidi in die Schweiz zu schicken.
Keine Ausnahme
Mit gefälschten Ausweisen wurde Chidi in eine Schweizer Stadt gebracht, wo sie sich auf dem Strassenstrich weiter prostituieren musste. Bei einer Polizeikontrolle wurde sie verhaftet und danach in ein Empfangszentrum für Asylsuchende gebracht. Dort entstand der Kontakt zur Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ. Den FIZ-Mitarbeiterinnen begegnete eine schwer traumatisierte junge Frau, die unter Todesangst litt, Schlafstörungen und körperlichen Schmerzen hatte. Chidi beschloss, in das FIZ-eigene Opferschutzprogramm einzusteigen.
Die Geschichte von Chidi ist leider kein Einzelfall. 146 Opfer von Frauenhandel zwecks sexueller Ausbeutung hat die Fachstelle 2018 beraten und begleitet. Niemand weiss genau, wie viele Frauen in der Schweiz zur Prostitution gezwungen werden oder unter ausbeuterischen Verhältnissen in Haushalten arbeiten, wo es ebenfalls oft zu sexuellen Übergriffen kommt. «Wir müssen von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgehen, denn Menschenhandel geschieht ja im Dunkeln, die Opferidentifizierung ist somit sehr schwierig », so Lulzana Musliu vom Bundesamt für Polizei (Fedpol). «Hinweise auf die Dimensionen können uns nur aufgedeckte Fälle wie jener von 2018 in Biel geben, wo eine Thailänderin mehr als 80 Landsleute in Abhängigkeit gebracht und zur Prostitution genötigt hatte.»
Die Opfer von Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung sind in der grossen Mehrheit der aufgedeckten Fälle weiblich, aber auch trans Menschen sind betroffen. Mit falschen Versprechen werden die häufig sehr jungen Frauen angeworben und in die Schweiz gebracht. Es werden ihnen tolle Arbeitsmöglichkeiten versprochen. Oder sogenannte Loverboys gaukeln Frauen Liebesbeziehungen mit Heiratsabsichten vor. Die angeblichen Verlobten bringen die jungen Frauen dann in die Schweiz.
Die Opfer von Frauenhandel werden «verkauft», überwacht, mit Gewalt und Drogen gefügig gemacht.
Hier angekommen, werden ihnen meist die Papiere abgenommen, danach werden sie an ZuhälterInnen oder BordellbetreiberInnen «verkauft». Die «entstandenen Kosten» müssen die Frauen nun abarbeiten. Sie werden überwacht, mit Drohungen, Gewalt, Medikamenten und Drogen gefügig gemacht. Aus Angst vor weiterer Gewalt und den Konsequenzen für ihre Familienangehörigen brechen nur wenige aus. Dazu kommt die Angst vor der Polizei und der Ausschaffung.
«Wir stellen eine Zunahme von potenziellen Opfern des Menschenhandels fest, die aus dem afrikanischen Kontinent, insbesondere aus Nigeria, stammen», erklärt Alexander Ott, Leiter der Fremdenpolizei der Stadt Bern. «Zu den angeblichen Schulden und zu den Drohungen kommt hier oft auch noch ein moralisch-religiöser Druck hinzu, der es zusätzlich erschwert, die Frauen zu Aussagen zu bewegen.»
Auch weil sie meist die Landessprache nicht können, sich mit den Gesetzen nicht auskennen und grösstenteils völlig von der Gesellschaft abgeschottet leben, wenden sich die Opfer nur selten selber an die Behörden oder eine Fachstelle wie der FIZ. «Die meisten Frauen werden durch die Polizei oder Beratungsstellen mit uns vernetzt», so Rebecca Angelini von der Fachstelle. Die NGO, die eng mit der Polizei, Migrationsämtern, Beratungsstellen und weiteren Institutionen zusammenarbeitet, hat ebenfalls eine starke Zunahme von Opfern aus Afrika festgestellt, welche in der FIZ Unterstützung erhalten.
Die Mehrheit der Frauen, die sich in der Schweiz prostituieren und Gefahr laufen, Opfer von Menschenhandel zu werden, stamme aber nach wie vor aus Osteuropa, wie Lulzana Musliu und Alexander Ott bekräftigen. «Diese Frauen werden häufig gar von Mitgliedern der eigenen Familie oder engen Bekannten ausgebeutet. Oft haben sie Kinder, die sie zurücklassen müssen. Wehren sie sich, sind nicht nur sie selber bedroht, sondern auch ihre Kinder», so Musliu.
Opferschutz greift nur teilweise
«Osteuropäerinnen, die aus EU- oder Efta-Staaten kommen, müssen bei uns vorsprechen und unter anderem den Ort ihrer Tätigkeit angeben. Dank der Sensibilisierung und Schulung unserer Mitarbeitenden, zum Beispiel durch die FIZ, können diese in der Befragung nun besser einschätzen, ob sich die Person in einer Zwangssituation befindet», erklärt Alexander Ott, Leiter der Fremdenpolizei der Stadt Bern.
Solche Schulungen wurden nun insbesondere auch bei den Mitarbeitenden des Staatssekretariats für Migration (SEM) und der Asylzentren notwendig, denn immer mehr Opfer von Menschenhandel werden im Asylbereich erkannt. Es sind zum Beispiel Frauen, die der Ausbeutung entfliehen konnten und ein Asylgesuch stellen. «Hier greift das Opferhilfegesetz nicht», kritisiert Rebecca Angelini von der FIZ. «Ausländerinnen, die im Ausland Opfer von Gewalttaten wurden, hatten bislang keinen Anspruch auf Opferschutz – oder nur sehr beschränkt.» Schon gar nicht lasse sich ein Bleiberecht wegen der erlittenen Gewalt ableiten. «Opfer von Menschenhandel zu sein, ist kein Asylgrund.»
Weiterhin sei es nach wie vor äusserst schwierig, die Opfer aus der Asylunterkunft herauszuholen und in eine Institution zu bringen, wo sie sich geschützt fühlen – obwohl dies im Widerspruch zur Konvention des Europarats gegen Menschenhandel steht. «Dabei brauchen die Opfer viel Ruhe und Zeit, um überhaupt in die Lage zu kommen, über ihre traumatischen Erlebnisse zu sprechen und sich zu stabilisieren», so Rebecca Angelini. «Gerade diese Zeit ist aber Frauen im beschleunigten Asylprozess nicht gegeben. Insbesondere dann nicht, wenn sie via einen Dublin-Staat eingereist sind. Dann droht die Ausweisung.»
Diese Probleme seien erkannt, eine Arbeitsgruppe des SEM, in welcher auch die Flüchtlingshilfe und die FIZ vertreten sind, sei dabei, nach Lösungen zu suchen. «Das Problem bleibt aber bislang, dass politisch das Ziel, Dublin-Fälle schnellstmöglich auszuweisen, über dem Interesse des Schutzes dieser Frauen steht», so Angelini.
Chidi konnte dank der FIZ eine Therapie machen. Nach ein paar Monaten entschied sie sich, mit dem Rückkehrhilfeprojekt des Bundes nach Nigeria zurückzukehren, um ihre kranke Grossmutter zu pflegen.
* Name geändert