An einer ruhigen Strasse in der Nähe des Volkskrankenhauses Nr. 1 in Hangzhou steht eine alte Frau auf dem Trottoir. Als sich ein Mittelklassewagen nähert, wirft sie sich auf die Kühlerhaube, springt hoch, setzt sich dann auf den Boden und rührt sich nicht mehr. Der junge Fahrer steigt zitternd aus seinem Auto. Eine Stunde lang wird verhandelt. Am Ende einigt man sich auf eine Entschädigung. Bei dem Vorfall handelt es sich um einen vorgetäuschten Unfall, auf Chinesisch «peng ci». Wörtlich übersetzt heisst dies «Porzellan anfassen», gemeint ist ein Erpressungsversuch. In den sozialen Medien wimmelt es nur so von «pengci»-Videos, manche sind eher witzig, viele dramatisch. Aufgrund von Betrügereien aller Art, Skandalen um Lebensmittel und gefälschte Produkte sind Massnahmen gegen Tricksereien daher hochwillkommen. Ein guter Zeitpunkt also, um ein sogenanntes Sozialkreditsystem für vorbildliches Betragen einzuführen.
Belohnen und bestrafen
Staatliche und private Stellen sammeln Daten zur Bewertung von Bürgern, FunktionärInnen, Unternehmen und ganzen Branchen.
Seit Sommer 2018 stehen die Worte «Ehrlichkeit» («cheng») und «Glaubwürdigkeit» («xin») ganz gross auf den Propagandaplakaten, mit denen das Sozialkreditsystem beworben wird. Staatliche und private Stellen sammeln Daten zur Bewertung von BürgerInnen, FunktionärInnen, Unternehmen und ganzen Branchen. Ziel ist es, die Guten zu belohnen und die Schlechten zu bestrafen. Zu den Entwicklern des Punktesystems zählt der Pekinger Forscher Lin Junyue. Er bestreitet, dass es schon jetzt für jeden Bürger und jede Bürgerin einen Punktestand gebe: «So weit sind wir noch nicht, auch wenn wir über die gewöhnliche Bonitätsprüfung hinausgehen. Im Laufe der Zeit werden alle Arten von Informationen über eine Person oder eine Organisation gesammelt. Damit können vor allem unbescholtene Bürger oder Firmen, die bislang keine Nachweise über ihre Solvenz erbringen konnten, dank neuen Kriterien Kredite bekommen, sich auf Ausschreibungen bewerben und viele andere Dinge mehr.»
Das Sozialkreditsystem wird bis 2020 in 43 Pilotgemeinden erprobt. Fast alle sammeln Informationen über soziale Netzwerke oder Smartphone-Apps, nutzen aber auch eine zunehmend ausgefeiltere Videoüberwachung. Im Zuge des Programms «Himmelsnetz» sollen bis 2020 alle grösseren städtischen Plätze mit Kameras zur Gesichtserkennung ausgestattet werden.
«Ein Gefühl der Sicherheit ist das beste Geschenk, das ein Land seinen Bürgern machen kann», erklärte Präsident Xi Jinping in einer Dokumentation des Nationalfernsehens im Vorfeld des 19. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober 2017. Im Film hiess es, fast jede zweite Überwachungskamera weltweit stehe in China.
1000 Punkte Startguthaben
Täglich sendet das Lokalfernsehen eine Zusammenstellung aller Fehltritte, die innerhalb der vorangegangenen 24 Stunden von den Überwachungskameras aufgezeichnet wurden.
Willkommen in Rongcheng, einem Ort, der ursprünglich für Fischerei und Wohnwagenfirmen bekannt war. Bei unserem Besuch fällt auf, dass der Park rund um das Bürgeramt am Spätnachmittag fast verlassen ist. Ein altes Paar erklärt uns den Grund: «Jetzt läuft im Fernsehen gerade ‹Das Leben des Volkes in 360 Grad›, und die meisten Leute schauen sich das an.» Täglich sendet das Lokalfernsehen eine Zusammenstellung aller Fehltritte, die innerhalb der vorangegangenen 24 Stunden von den Überwachungskameras aufgezeichnet wurden. In Rongcheng wurde das Sozialkreditsystem 2013 eingeführt. Die Folge war ein merkbarer Wandel im Verhalten und in den sozialen Interaktionen.
Alle Einwohner bekamen zu Beginn ein Guthaben von 1000 Punkten und lagen damit automatisch in der Kategorie A. In der Folge konnten sie entweder Punkte gewinnen und in die Kategorie A+ aufsteigen oder Punkte verlieren und in die Kategorien B, C oder D abrutschen. Schon mit dem Verlust eines Punkts, also bei einem Kontostand von 999, war Kategorie B erreicht, was bedeutet, dass man von der Bank keinen Immobilienkredit mehr erhält. Wer Müll auf der Strasse liegen lässt, büsst drei Punkte ein. Deshalb sind die Busse und Trottoirs extrem sauber, man sieht nirgendwo eine Zigarettenkippe oder eine leere Getränkedose herumliegen. Zahlreiche Überwachungskameras ersetzen die Streifenpolizei.
In vielen Stadtvierteln wurden Verhaltensregeln aufgestellt und von den AnwohnerInnen unterzeichnet. Die wichtigsten Verbote betreffen erotische Filme oder Bücher, Urban Gardening im öffentlichen Raum, den Besuch unregistrierter Kirchen, den rüden Umgang mit NachbarInnen und das Posieren in Luxuswagen bei Hochzeiten oder Begräbnissen.
Graffiti geben Abzug
In den Dörfern ist die Wirksamkeit des Sozialkreditsystems noch stärker sichtbar. In Dongdao Lu Jia, einem hübschen Örtchen mit frisch asphaltierten Gassen, erhielten die EinwohnerInnen im Juli 2018 ein zwölfseitiges Verzeichnis aller verdienstvollen oder unerwünschten Tätigkeiten. Darin heisst es, dass man einen Punkt bekommt, wenn man zum Beispiel die Obstbäume des Nachbarn schneidet, ein Auto aus dem Graben zieht oder einen alten Menschen ins Krankenhaus oder auf den Markt begleitet. Wer hingegen seine Hühner frei herumlaufen lässt, muss 200 Yuan Strafe zahlen und verliert zehn Punkte. Eine Prügelei kostet 1000 Yuan und zehn Punkte. Für regierungskritische Graffiti oder Aufkleber sind 1000 Yuan und 50 Punkte fällig. Die höchste Strafe erhalten diejenigen, die sich direkt auf höherer Ebene beschweren, ohne zuvor den Dorfvorsteher zu konsultieren: 1000 Yuan Strafe und sofortige Herabstufung in Kategorie B.
«Ich habe gerade den Kamin eines Nachbarn repariert. Wenn ich das unserem Parteichef melde, dann müsste ich einen Punkt bekommen.»
Der 64-jährige Liu Jian Yi hat viele Jahre auf verschiedenen Baustellen im ganzen Land gearbeitet, jetzt wohnt er wieder in dem grauen Steinhaus, in dem er geboren wurde. «Ich habe gerade den Kamin eines Nachbarn repariert. Wenn ich das unserem Parteichef melde, mein Freund es bestätigt und ein Foto vorlegt, dann müsste ich einen Punkt bekommen.»
Durchs Nachbardorf Ximu Jia mit seinen 250 Einwohnern fliesst ein Fluss. Ein Häuschen, das von glitzernden Scherben umgeben ist, trägt auf dem Betondach ein grosses rotes Kreuz. Es handelt sich um die protestantische Kirche. Eine untersetzte Frau mit Kurzhaarschnitt erscheint auf der Schwelle. Über ihrer Tür hängt ein Emailleschild mit der Aufschrift: «Familie mit vorbildlichem Sozialkredit». Frau Mu räuspert sich und erzählt: «Das ist jetzt drei Jahre her. Beamte haben den Ostteil des Dorfs ausgezeichnet – ohne bestimmten Grund. Dieses Jahr wurde es ernster. Wir bekamen alle ein Büchlein, in dem stand, was man zu tun und zu lassen habe, es war wie in der Schule. Dazu die Kontaktadresse der Stelle, der wir unsere guten Taten berichten und dafür Punkte einfordern sollten.»
Ihr Name steht nicht auf der aktuellen Liste der guten SamariterInnen, die im Hof des Gemeindezentrums hängt. «Ich bin noch nicht so weit, dass ich sie anrufe, nur weil ich meiner Nachbarin geholfen habe.» Sie flüstert: «Ich habe eine Freundin, deren Mann einen Kredit nicht pünktlich zurückgezahlt hat. Er hat nur einen Monat ausgesetzt und kam auf eine schwarze Liste. Alle Nachbarn wussten Bescheid. Das hat vielleicht nichts miteinander zu tun, aber sie haben sich dann getrennt.»
Dieser Text ist eine gekürzte Fassung eines Artikels, der zuerst erschienen ist in: «Le Monde diplomatique» (Hg.), LMd vom 10.01.2019, Berlin (taz Verlag) 2019, «Der dressierte Mensch» von René Raphaël und Ling Xi. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.