Gelächter. Gekicher. Dutzende junge Augenpaare kleben an einem Schüler, der offensichtlich betrunken ist. Er streitet mit seiner Mutter, die sich darüber beschwert, dass er ständig die Schule schwänze, wobei er behauptet, sich tadellos zu verhalten. Das Ganze ist nur ein Spiel, aufgeführt von Mitgliedern der kenianischen Jugendgruppe Wasanii Sanaa, auf Deutsch etwa «die Kunst der Künstler». An diesem Morgen spielt die Gruppe vor Schülerinnen und Schülern in Kibera, einem der grössten Slums in der kenianischen Hauptstadt Nairobi.
«Unsere Stücke handeln von allem, was zu unserem Alltag im Slum gehört», erklärt Vincent Odhiambo Omondi, der mittlerweile 28-jährige Gründer der Gruppe. «Menschenrechtsverletzungen, Drogenmissbrauch, Vergewaltigungen und andere Gewalt gegen Frauen.» Der Rechtsanwaltsgehilfe und Jurastudent ist in Kibera aufgewachsen und gründete Wasanii Sanaa 2011. Schon als Kind habe er beobachtet, wie Polizisten die SlumbewohnerInnen als eine Art Freiwild behandelten: Sie hätten Geld für tatsächliche oder angebliche Vergehen gefordert und mit Verhaftung oder Gewalt gedroht, sollten ihre Opfer nicht zahlen. «Die meisten Menschen hier kennen ihre Rechte nicht», sagt Vincent. «Ich bin mit dem Gedanken gross geworden, dass ich sie einiges Tages verteidigen werde.» Durch Amnesty International und andere Organisationen wurde Vincent zu einem «Paralegal» ausgebildet, einem Anwaltsgehilfen. Ausserdem begann er ein Jurastudium, das er nach zwei Semestern allerdings auf Eis legen musste, weil er die Universitätsgebühren zurzeit nicht bezahlen kann.
Dank Wasanii Sanaa kann Vincent trotzdem weiterhin das machen, was ihm am Herzen liegt: die Menschen über ihre Rechte aufklären. Und zwar spielerisch und artistisch, mittels Theateraufführungen, Tanz oder Musik. Die Verbindung zwischen Kunst und dem Kampf für Menschenrechte hat viele der Mitglieder von Wasanii Sanaa für die Gruppe begeistert. «Ich hatte sie einige Male auftreten sehen», erinnert sich die 21-jährige Wirtschaftsstudentin Nancy Makini. «Weil ich schon länger davon träumte, selbst etwas Künstlerisches zu machen, habe ich mich ihnen vor zwei Jahren angeschlossen. » Dass sie auf diese Weise auch noch zum Widerstand gegen den Machtmissbrauch der Herrschenden beitragen kann, findet sie besonders reizvoll.
Kontinental vernetzt
In vielen afrikanischen Ländern sind jüngere Menschen nicht länger bereit, sich von den alten Eliten widerspruchslos beherrschen zu lassen. Sie wollen Armut, Unterdrückung, Korruption und Misswirtschaft nicht mehr kampflos hinnehmen. Stattdessen begehren sie gegen ihre Regierungen auf und klagen ihre demokratischen Rechte ein. In den vergangenen Jahren sind unter anderem in Burkina Faso, der Demokratischen Republik Kongo, der Republik Kongo und dem Senegal, in Simbabwe und Tansania Widerstandsbewegungen von meist jungen und oft akademisch gebildeten Aktivistinnen und Aktivisten entstanden. Erleichtert wird das Aufbegehren der Jugend durch die technologische Entwicklung. Die AktivistInnen in den unterschiedlichen Ländern kennen und vergleichen sich untereinander über soziale Medien wie Facebook, Twitter oder Filme auf Youtube. Die Bewegung hat den ganzen Kontinent erfasst. Unter dem Titel «Africans Rising for Justice, Peace and Dignity» (Afrikaner begehren auf für Gerechtigkeit, Frieden und Würde) schlossen sich im Sommer 2016 in Südafrika junge afrikanische Aktivistinnen und Aktivisten zusammen. Die Mitglieder der Initiative nutzen das Internet, um ihre Botschaften zu verbreiten. Unter Hashtags wie #AfricansRising, #Africa- WeWant oder #EndInequality twittern junge Afrikanerinnen und Afrikaner ihre Gedanken, Visionen und Forderungen. Da heisst es zum Beispiel: «Wir sind es leid, zum Schweigen gebracht, unterdrückt und isoliert zu werden.» Oder: «Wir haben ein Recht auf Frieden, gesellschaftliche Teilhabe und einen Anteil am Reichtum.» Viele junge AktivistInnen sehen sich in einer Linie mit Unabhängigkeitskämpfern wie Kwame Nkrumah, Patrice Lumumba, Nelson Mandela oder Julius Nyerere. Sie streben aber keine politischen Posten an, keine Beteiligung an der Regierung. Stattdessen fordern sie ihre Rechte als BürgerInnen ein, wollen die Regierenden kontrollieren – und im Gegenzug ihre Pflichten erfüllen.
Den Gefahren trotzen
In der Demokratischen Republik Kongo beispielsweise kämpfen die Mitglieder der Bewegung LUCHA (Lutte pour le changement) gegen Menschenrechtsverletzungen und Missstände, und zwar ausschliesslich mit friedlichen Mitteln. Schliesslich habe der bewaffnete Kampf das Elend der Bevölkerung bisher nur vergrössert, sagen sie. Gegründet wurde die Gruppe 2012 in Goma, der Metropole im Osten des Landes, zunächst als eher informelle Bewegung junger AkademikerInnen. Eine Kampagne für sauberes Trinkwasser in Goma war eine der ersten Aktionen von LUCHA – mit Demonstrationen, Sit-ins, Informationsveranstaltungen oder über die neuen Medien protestieren sie seitdem gegen alles, was sie als sozialen oder politischen Missstand empfinden. Und davon gibt es reichlich, vor allem im Osten des Landes.
Vor den Präsidentschaftswahlen vom Januar 2019 berichtete Amnesty International von Einschränkungen der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit, von Einschüchterungen und willkürlichen Verhaftungen. Menschenrechtsaktivistinnen und Journalisten werden im Land regelmässig bedroht, des Landes verwiesen oder getötet. Das gilt auch für die Mitglieder von LUCHA, von denen viele immer wieder verhaftet wurden. Ihre Vision klingt angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse wie Träumerei: «Ich würde wirklich gerne erleben, dass unsere Justiz eines Tages denjenigen, die ihrer Rechtsprechung unterworfen sind, tatsächlich Gerechtigkeit wiederfahren lässt», sagte der inzwischen verstorbene Jurist Luc Nkulula. Stattdessen habe die Bevölkerung weder Wasser noch Strom, selbst wenn sie für die entsprechenden Anschlüsse bezahle. Ein gutes Jahr später, im Juli 2018, verbrannte der 32-jährige Nkulula in seinem hölzernen Haus in Goma. Die LUCHA-Mitglieder zweifeln die Ergebnisse einer staatlichen Untersuchung an, wonach sein Tod ein Unglück gewesen sei.
Obwohl Nkulula einer der wichtigsten Köpfe von LUCHA war, macht die Bewegung weiter. Sie tauscht sich mit der ebenfalls kongolesischen Gruppe Filimbi («Der Schlusspfiff ») aus, kooperiert mit Balai Citoyen («Besen der Bürger») in Burkina Faso und mit Y’en a marre («Es reicht») im Senegal – einem von zwei Rappern 2011 gegründeten Kollektiv, das in einer grossen Kampagne junge Menschen aufrief, sich für die Wahlen registrieren zu lassen; seither engagiert sich Y’en a marre unter anderem für den verstärkten Einbezug von jungen Menschen in politische Prozesse und gegen die Korruption.
Der Widerstand der afrikanischen Jugend gegen die Willkür der Herrschenden wächst weiter.
Bettina Rühl ist Korrespondentin in Nairobi.