«Über die Nasenspitze hinausdenken»
Noch vor ein paar Jahren fühlte sich Fina Girard ohnmächtig und dachte: «Ich bin ja nur eine Jugendliche, meine Meinung wird nicht ernst genommen, ich kann nichts machen.» Dabei fand sie Politik schon damals spannend – aber sich bei einer Jungpartei einzureihen, das war ihr zu einengend. Dann nahm ein Freund sie mit zur Amnesty-Jugendgruppe in Basel. Schnell gewann Fina dort den Eindruck, dass sie doch etwas bewegen und selbst gestalten könne: «Ich habe realisiert, dass es noch andere gibt, die so denken wie ich.» Die heute 18-Jährige, die am vergangenen 20. Oktober zum ersten Mal wählen durfte, erklärt: «Wichtig ist mir, über die eigene Nasenspitze, über meine eigenen Bedürfnisse hinauszudenken. Ich möchte eine Welt, in der Materielles und Egoismus weniger zählen.» Sogleich kommentiert sie sich selbst – klar, als Jugendliche bekomme man bei solchen Aussagen rasch den «Idealistenstempel», aber die Jungen hätten eben tatsächlich noch Raum und Zeit, sich zu engagieren. Ausserdem würden sie wohl auch die Gleichaltrigen besser erreichen können, «wahrscheinlich sind wir glaubwürdiger als ein 50-jähriger Marketingmensch, der seine Texte jugendlich machen will, indem er öfter das Wort ‹krass› verwendet.»
Finas Agenda ist voll. Sie bereitet sich auf die Matur im kommenden Frühling vor, spielt Oboe in verschiedenen Ensembles und singt im Chor. Daneben gibt es die Amnesty-Gruppe, und auch in der Klimabewegung ist sie sehr aktiv. «Oft handeln wir aus Solidarität für andere, die vielleicht weit weg von uns leben. Aber beim Klimawandel geht es zum ersten Mal um ein Thema, das auch mich ganz direkt betrifft», erzählt sie bei einem Kaffee im Basler Lokal Mitte.
Mit der Jugendgruppe Basel organisiert sie auch mal spontane Strassenaktionen, zum Beispiel gegen sexuelle Gewalt, oder ein Konzert für die Menschenrechte wie den «Dance for Human Rights», an dem der Saal voll war. Bei den Aktionen will sie auch mit Andersdenkenden in Kontakt kommen: «Man muss ja gar nicht alle überzeugen wollen, aber im Dialog bleiben!», sagt sie.
Besonders angetan hat es Fina auch der Amnesty-Briefmarathon, der jeweils im Dezember stattfindet. Er komme bei Passanten gut an, und die Resultate seien motivierend: «Wenn ein Mensch freigelassen wird, für den wir uns eingesetzt haben, merke ich, dass wir etwas bewirken.» Sogar während eines Austauschjahrs in Stockholm schloss sie sich einer Amnesty-Gruppe an und sammelte nach ein paar Monaten Unterschriften auf Schwedisch. Wohin nach der Matur der Weg für die Tochter eines Taxifahrers und einer Sammlungskuratorin geht, ist noch offen. Lange interessierte sie sich für Architektur, mittlerweile schwebt ihr aber eher ein Beruf in einer sozialen Organisation vor: «Ich möchte vor allem eine sinnvolle Arbeit machen können.»
«Die Utopisten sind die anderen»
«Wenn du deinen Platz in dieser Welt noch nicht gefunden hast, dann bist du hier, um eine neue zu schaffen.» Dieses Motto hat sich Hamza Palma zu eigen gemacht. Der Gymnasiast aus dem waadtländischen Morges will zu den Menschen gehören, denen es dereinst gelingt, den Planeten vor der globalen Erwärmung und den daraus resultierenden Katastrophen zu retten. Der 16-jährige Teenager, den wir am Rande des Lausanner Klimagipfels «Smile for Future» treffen, hat seit dem Beginn der Klimastreiks im Dezember 2018 keine einzige Klimademo verpasst. «Es ist wichtig, dass junge Menschen demonstrieren, denn wir sind die nächste Generation. Das legitimiert unser Engagement», betont Hamza. Er kritisiert die PolitikerInnen, die trotz den vielen wissenschaftlichen Beweisen für den Klimawandel untätig bleiben würden. «Das Schlimmste ist, dass die Politiker die Macht hätten, etwas zu tun, aber nichts machen. Sie rechtfertigen sich mit dem Argument, dass in der Schweizer Demokratie immer ein Konsens gefunden werden muss. Oder dann erwarten sie von uns, dass wir die Lösungen präsentieren.»
Hamza strebt eine andere Gesellschaft an, eine ohne den «ungezügelten Kapitalismus», der die natürlichen Ressourcen ausplündere. «Ich persönlich befürworte die Wachstumsbeschränkung. Meiner Meinung nach ist ein ökologisches Wachstum nicht möglich. Doch das ist ein Thema, das unter uns noch immer diskutiert wird. Auf dem Lausanner Gipfel waren wir darüber uneins.»
Hamzas «grünes» Bewusstsein entstand im Laufe der Zeit. Schon als Kind las er gerne wissenschaftliche Bücher, er interessierte sich leidenschaftlich für Astronomie. Und dann kamen die schwedische Aktivistin Greta Thunberg und ihre Rede vom Dezember 2018 an der Klimakonferenz COP 24 in Katowice, die ihn stark beeindruckte. Der Gymnasiast engagiert sich seither nicht nur an den Klimastreiks, sondern auch in der Bewegung Extinction Rebellion, mit der er sogar nach Paris zur Klimablockade reiste. Er ist auch bei den Jungen Grünen und bei Amnesty International aktiv. «Die Menschenrechte sind mir sehr wichtig, insbesondere diejenigen von Migrantinnen und Migranten. Wir werden das Klimaproblem nicht lösen können, wenn wir nicht zugleich die Frage der sozialen Gerechtigkeit lösen», meint der Schüler. Solche verschiedenen Engagements würden es ermöglichen, unterschiedliche Formen des Protests auszuprobieren: Politik, Streiks, Demonstrationen oder ziviler Ungehorsam – alles sei nützlich, um Öffentlichkeit für dringliche Anliegen herzustellen. Hat er Angst davor, dass seine Aktivitäten ihm persönlich Nachteile bringen könnten? «Angst darf uns nicht blockieren. Solange ein Kampf legitim ist und niemandem Schaden zugefügt wird, müssen wir marschieren!», sagt Hamza bestimmt. «Wir werden Utopisten genannt. Aber die Utopisten sind doch heute die anderen – diejenigen, die glauben, den Wandel ablehnen zu können.»
Einmal Aktivistin, immer Aktivistin
«Bereits in meinem Heimatland habe ich mich mit Frauenrechten beschäftigt. Ich bin in Marokko aufgewachsen, in einer Gesellschaft, in der die sozialen und religiösen Regeln sehr streng sind», erzählt die 22-jährige Zineb Baazis. Als Teenager musste sie wegen des sozialen Drucks mit Fussballspielen aufhören, aber sie setzt sich weiterhin und auch hier in der Schweiz für Frauenrechte ein. Glücklicherweise hat Zineb einen aufgeschlossenen Vater, der seine Töchter stets zum Reisen ermutigte und ihre Bildung förderte. Als sie 18-jährig war, wählte die an Kriminalistik und Menschenrechten interessierte junge Frau für ihre Studien die Schweiz: «Hier ist die Kombination beider Fächer möglich.» So begann sie ein Studium an der Universität Lausanne.
«Im Gymnasium in Rabat machte ich bei einer Gruppe mit, die sich ‹Strassenphilosophie› nannte. Jeden Samstag trafen wir uns für informelle Debatten rund um progressive Themen. Dank diesen Gesprächen konnte ich andere Anschauungen entwickeln, und vor allem stellte ich fest, dass ich nicht die Einzige war, die gesellschaftlich ‹vorwärts machen› wollte. Mein Engagement wurde dann aber vor allem hier an der Uni konkret, als ich Amnesty International beitrat», erzählt die Studentin. Als Co-Verantwortliche der Gruppe für Frauenrechte organisiert Zineb regelmässig Vorträge und Ateliers, die unter anderem vermitteln, wie man sich gegen sexistische Angriffe wehren kann. Dieses Anliegen möchte sie auch im Rahmen der Studierendenorganisationen verbreiten, in denen sie ebenfalls aktiv ist.
«Alle Themen rund um die Sexualität finde ich spannend. Denn dies ist in meinem Heimatland noch ein grosses Tabu. Aber auch die Situation von Migrantinnen und ihre doppelte Unterdrückung beschäftigen mich sehr», erklärt Zineb, die sich ausserdem auch für LGBTI-Rechte engagiert. «Ich war sehr enttäuscht, als ich feststellen musste, dass auch hierzulande Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung angegriffen werden.»
Fühlt sie sich jemals entmutigt? «Nein, im Gegenteil. Mit den Jahren wurde meine Motivation immer stärker. Die negativen Kommentare, die ich manchmal auf sozialen Netzwerken erhalte, sind ein Zeichen dafür, wie viel noch zu tun ist. Wie auch immer: Wer sich engagiert, darf sich nicht entmutigen lassen», sagt sie mit ruhiger Stimme. «Ich bin eine Frau, und deshalb werde ich diskriminiert. Wenn ich nicht selbst kämpfe, wer dann?»
Zineb ist kürzlich für ihren Masterabschluss nach Genf umgezogen und überlegt sich, was sie danach tun will. Liegt ihre Zukunft in Marokko, in der Schweiz oder anderswo? «Ich werde dort sein, wo ich eine Veränderung bewirken kann», prophezeit die junge Feministin. Einmal Aktivistin, immer Aktivistin.