Sie vertritt ihre Meinung laut und klar: Demonstrantin in Mexiko-Stadt. © Sergio Ortiz / Amnesty International
Sie vertritt ihre Meinung laut und klar: Demonstrantin in Mexiko-Stadt. © Sergio Ortiz / Amnesty International

MAGAZIN AMNESTY Meinungsfreiheit Jetzt mal Klartext

Von Carole Scheidegger. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von März 2020.
Was bedeutet Meinungsfreiheit eigentlich genau? Wo sind die Grenzen, und deckt sie auch Unwahrheiten ab? Hier finden Sie Antworten.
Was unterscheidet die Meinungsfreiheit von der Meinungsäusserungsfreiheit? Und gehört die Pressefreiheit dazu?


Meinungsfreiheit heisst, dass man eine bestimmte Haltung haben darf; sie richtet sich quasi nach innen. Die Meinungsäusserungsfreiheit geht nach aussen: Sie garantiert  uns, dass wir diese Haltung auch äussern dürfen – nicht nur verbal, sondern zum Beispiel auch mit einer Karikatur, einem Kunstwerk oder dem Verbrennen einer Flagge. Die Pressefreiheit ist ein Teil der Meinungsfreiheit und gibt der Presse das Recht, Informationen ungehindert zu verbreiten  sowie die eigenen Quellen zu schützen.

Es liegt an den Staaten, dafür zu sorgen, dass diese Menschenrechte eingehalten werden: Regierungen dürfen niemanden zensurieren oder für eine abweichende Meinung bestrafen. Die Meinungsäusserungsfreiheit darf aber in gewissen Fällen eingeschränkt werden, dazu weiter unten mehr.

Wo ist die Meinungsfreiheit in den Menschenrechten festgehalten?

Zum Beispiel in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in Artikel 19 des Uno-Pakts über die bürgerlichen und politischen Rechte oder in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention. In der Schweizer Bundesverfassung ist dieses Recht so formuliert:

Art. 16 Meinungs- und Informationsfreiheit

1 Die Meinungs- und Informationsfreiheit ist gewährleistet.

2 Jede Person hat das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten.

3 Jede Person hat das Recht, Informationen frei zu empfangen, aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen und zu verbreiten.

Wann kann die Meinungsäusserungsfreiheit eingeschränkt werden?

Wenn es im öffentlichen Interesse ist oder um die Rechte oder den Ruf anderer Menschen zu schützen. Aufrufe zu Hass und Gewalt sind nicht erlaubt. In der Schweiz wird Meinungsäusserungsfreiheit oft im Zusammenhang mit der Anti-Rassismus-Strafnorm und deren kürzlicher Ausweitung auf die sexuelle Orientierung diskutiert. Aber es gibt weitere Grenzen, die weniger Schlagzeilen machen. Dazu zählen zum Beispiel ehrverletzende Äusserungen. Das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb schränkt ein, was ein Unternehmen über ein anderes sagen darf. Bundesangestellte dürfen keine Staatsgeheimnisse verraten, und auch Mitarbeitende privater Unternehmen können gegenüber dem Arbeitgeber eine Geheimhaltungspflicht haben.

Ist es Zensur, wenn eine Zeitung meinen Kommentar nicht veröffentlicht?

Nein. «Private Unternehmen dürfen selbst entscheiden, was sie veröffentlichen. Der Schutz vor Zensur bezieht sich auf die Staaten, die nicht zensurieren dürfen», sagt Jörg Künzli, der Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte. Medien sind aber auch in Bezug auf ihre Leserbrief- oder Kommentarspalten für die Inhalte verantwortlich, die sie publizieren. So dürfen sie zum Beispiel keine Kommentare veröffentlichen, die gegen die Anti-Rassismus-Strafnorm verstossen.

Ist die Meinungsäusserungsfreiheit das wichtigste Menschenrecht?

«Amnesty International macht keine Ranglisten von Menschenrechten; jedes ist gleich wichtig», sagt Christine Heller, Programmleiterin Campaigning bei Amnesty Schweiz. «Klar ist aber, dass die Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit zur Verletzung von weiteren Rechten wie zum Beispiel der Versammlungsfreiheit führen kann.» Für eine Demokratie ist es wichtig, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung frei kundtun können.

Was tut sich im Völkerrecht zum Thema Meinungsfreiheit?

Der letzte Bericht des Uno-Sonderberichterstatters für Meinungsfreiheit, David Kaye, behandelte das Thema Hassreden in sozialen Netzwerken. «Hier sind Fragen entstanden, die es vor zehn Jahren so noch nicht gab», erklärt Jörg Künzli. Eine neue Konvention zu diesem Thema ist aber nicht in Sichtweite.

Gilt die Meinungsfreiheit nur für wahre Aussagen?

«Nein, auch der grösste Stumpfsinn oder vorsätzlich falsche Behauptungen sind von der Meinungsfreiheit gedeckt », sagt Jörg Künzli. «Wenn die Behörden entscheiden dürften, was wahr und was falsch und folglich von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt ist oder nicht, könnte das rasch zu Missbrauch führen.» Doch wie oben erläutert, hat die Meinungsfreiheit auch Grenzen.

Was tun Regierungen, um die Meinungsäusserungsfreiheit zu unterdrücken?

Machthabende haben leider eine fast unbeschränkte Fantasie, wenn sie missliebige Stimmen zum Schweigen bringen wollen. Sie zensurieren Zeitungsartikel und Blogbeiträge, gehen mit Gewalt gegen friedlich Demonstrierende vor, bedrohen Journalistinnen oder lassen Menschenrechtsverteidiger verschwinden. Verurteilungen erfolgen oft im Namen der Terror- oder Extremismusbekämpfung. Mit dem Argument der «Wahrung der nationalen Sicherheit » werden repressive Gesetze erlassen. Vielerorts werden KritikerInnen mundtot gemacht, indem sie aufgrund eines fabrizierten Delikts wie Drogenbesitz oder Steuerbetrug ins Gefängnis wandern. Im vergangenen Jahr haben Regierungen an vielen Orten der Welt friedliche Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen, von Hongkong über den Iran bis Chile. «Aber auch in Europa ist die Meinungsfreiheit unter Druck», sagt Lisa Salza, Leiterin der Kampagne «FREI» bei Amnesty Schweiz. «In Polen zum Beispiel geht die Regierung jeweils hart gegen Demonstrierende vor, und die Unabhängigkeit der Justiz ist in grosser Gefahr.»

Google und Facebook: Bedrohliches Geschäftsmodell

Die Plattformen des Google-Mutterhauses Alphabet und des Unternehmens Facebook – darunter Facebook, Instagram, Google, Youtube und Whatsapp – sind  heute von entscheidender Bedeutung für die Informationsbeschaffung und den Dialog. Die meisten Smartphones der Welt laufen zudem mit dem  Android-Betriebssystem von Google. Diese Dienste sind faktisch die neuen Plätze des globalen öffentlichen Lebens. Die Technologiegiganten bieten ihre  Dienste «kostenlos» an. Aber im Gegenzug zahlen Milliarden von NutzerInnen mit ihren persönlichen Daten. Das führt dazu, dass sie im Web und in der realen Welt dauernd überwacht werden.

Dieses Geschäftsmodell ist nicht mit dem Recht auf Privatsphäre vereinbar und bedroht eine Reihe anderer Rechte, darunter die Meinungsfreiheit sowie das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Die  Werbearchitektur in den Händen von Facebook und Google kann auch für politische Zwecke missbraucht werden. Facebook hat eigene Richtlinien dazu entwickelt, was auf der Plattform  gesagt werden darf und was nicht – es ist ein neues Phänomen, dass ein privates Unternehmen eine so grosse Macht bei der Definition der  Meinungsäusserungsfreiheit hat. (Nadia Boehlen)

Mehr Informationen finden Sie im Amnesty-Bericht «Surveillance Giants»