In Diepsloot, einem Slum ausserhalb von Johannesburg, fehlt es an allem - gegenwärtig vor allem an Schutzmöglichkeiten vor dem Coronavirus. © Cristina Karrer
In Diepsloot, einem Slum ausserhalb von Johannesburg, fehlt es an allem - gegenwärtig vor allem an Schutzmöglichkeiten vor dem Coronavirus. © Cristina Karrer

MAGAZIN AMNESTY Corona-Krise Angst und Ausgrenzung

Von Cristina Karrer. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Juni 2020.
Zwei Meter Abstand: In Slums ist diese Vorgabe schwer einzuhalten. In Südafrika verstärkt die Corona-Pandemie die bestehenden Ungleichheiten dramatisch. Ein Augenschein vor Ort.

Ein einziger Wasserhahn und davor eine Reihe von Menschen. Frauen und Männer, alle in Pyjamas, die einen mit einem abgegriffenen Stück Seife in der Hand, andere mit einem Eimer. Der Boden ist matschig, es hat in der Nacht zuvor geregnet. Ein normaler Morgen in Diepsloot, einem Slum ausserhalb der südafrikanischen Metropole Johannesburg. Eine halbe Million Menschen lebt hier, einige in richtigen «Township-Häuschen», viele in Blechhütten. Jene in den Blechhütten teilen sich einen Wasserhahn und eine Toilette, die man sich lieber nicht von innen ansehen will. Das Menschenrecht auf Gesundheit wurde in einem Slum wie diesem noch nie respektiert.

Es gibt Kliniken in den Townships, doch können es sich die meisten nicht leisten, eine Klinik zu besuchen.

Nun ist Covid-19 aufgetaucht. Ein schwer fassbares Gespenst in den Augen vieler Afrikaner und Afrikanerinnen, eines, das im Flugzeug von Europa hierher geflogen ist. Eines, das nur reiche Menschen attackiert. So die weit verbrei- tete Meinung in den südafrikanischen Slums, wo das schiere Überleben ohnehin sämtliche Kräfte absorbiert. Es gibt Kliniken in den Townships, HIV- und Aids-Teststellen, doch laut Lucky Masibuko, einem der bekanntesten HIV/Aids-Aktivisten Südafrikas, können es sich die meisten nicht leisten, eine Klinik zu besuchen. Die staatlichen Kliniken sind nicht gratis, und man wartet stundenlang und oft vergebens, egal wie gross die Schmerzen sind.

Wie sich Covid-19 auf die bereits maroden Gesundheitssysteme in Afrika auswirken kann, darf man sich gar nicht ausmalen. Einerseits prophezeit die WHO mindestens 80'000 Tote, im schlimmsten Fall 190'000, andererseits verkündet sie, dass Afrika durchaus eine Chance habe, das Schlimmste zu verhindern. Das Schlimmste ist noch nicht eingetroffen, zumindest nicht zum Zeitpunkt, als dieser Artikel verfasst wird. Die Spitäler sind noch nicht überlastet. In Südafrika käme es zu einer Katastrophe, wenn die knapp acht Millionen Menschen mit HIV/Aids und rund drei Millionen würden, weil Covid-19 das ganze Gesundheitssystem überrollt.

Dabei ist Südafrika vergleichsweise gut aufgestellt. Im Nachbarland Simbabwe gibt es schlicht kein funktionierendes Gesundheitssystem, die Menschen hungern. Bereits jetzt ist der Zugang zu Medikamenten durch die Lockdowns, die die meisten afrikanischen Länder eingeführt haben, gefährdet. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und das Verbot zu arbeiten wirken sich für die arme Bevölkerung verheerend aus.

Aggression liegt in der Luft

«Wir werden an Hunger sterben, nicht an diesem Virus», seufzt Rosemary Sithole, eine Frau aus Simbabwe, die am Strassenrand in Diepsloot Tomaten, Zwiebeln und Kartoffeln verkauft. Sie fürchtet nicht nur Hunger, sie hat auch Angst vor erneuten fremdenfeindlichen Ausschreitungen. In den südafrikanischen Townships und Slums brach in Zeiten von erhöhtem Stress immer wieder Hass auf andere AfrikanerInnen aus, Läden wurden geplündert, Menschen von Mobs umgebracht.

Covid-19 legt wie überall auf der Welt auch in Südafrika das wahre Gesicht eines Landes frei: Es ist ein wirtschaftlich marodes, politisch korruptes Land mit den grössten sozialen Ungleichheiten der Welt. Trotz einer verhältnismässig demokratischen Regierung zeigt sich auch hier, dass im Zweifelsfall mit harter Hand durchgegriffen wird. Nicht bei den Reichen, die den Lockdown in ihren Villen und riesigen Gärten verbringen können, sondern bei der armen Bevölkerung, die sich in einer Blechhütte weder sozial distanzieren noch sich Nahrungsmittel online bestellen kann.

Wie zu Zeiten der Apartheid rollten gepanzerte Fahrzeuge durch die Townships, mit grimmigen Soldaten, die
Finger am Abzug von Maschinengewehren.

Die Armee wurde gleich zu Beginn des Lockdowns mobilisiert, und wie zu Zeiten der Apartheid rollten gepanzerte Fahrzeuge durch die Townships, mit grimmigen Soldaten, die Gesichter vermummt, die Finger am Abzug von Maschinengewehren. Sie sollten dafür sorgen, dass das Motto «Bleib zu Hause» befolgt wird. Egal, wie das Zuhause aussieht, ob es überhaupt ein Zuhause gibt. Aus dem ganzen Land wurde von Übergriffen durch die Armee berichtet. Soldaten und Polizisten prügelten ohne Grund drauflos, Aggression lag in der Luft. Nicht nur vonseiten des Staats, sondern zunehmend auch in der betroffenen Bevölkerung. Wer von der Hand in den Mund lebt, für den oder die zählt jeder Tag Arbeit. Je mehr der Magen knurrt, desto grösser die Frustration. In Südafrika sind Millionen Menschen seit Langem mit der Regierung unzufrieden, es ist schon vor der Ankunft des Virus zu gewalttätigen Ausbrüchen gekommen. Das kann mit den prophezeiten wirtschaftlichen Auswirkungen noch ganz andere Dimensionen annehmen.

Die Corona-Krise legt auch offen, wie sehr es die Regierung in den letzten Jahren versäumt hat, eine Alternative für all die Millionen von Menschen zu schaffen, die immer noch in die Metropolen strömen und dafür sorgen, dass die Slums wachsen. Nun zeigt sich in aller Dringlichkeit, wie verheerend ein Ausbruch von Covid-19 gerade dort sein könnte. Da diese Missstände nicht von heute auf morgen behoben werden können, greifen die Behörden einmal mehr brutal durch. In Kapstadt wurden rund 1500 obdachlose Menschen, die seit Jahren kein Dach über dem Kopf haben, kurzerhand zusammengesammelt und in ein schnell errichtetes Lager ausserhalb der Stadt transportiert. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen zeigte sich entsetzt über die hygienischen und sanitären Zustände dort und befürchtet, dass gerade solche Lager zu Verbreitungsherden werden.

Angst vor dem Test

Um Covid-19 in den Griff zu bekommen, macht Südafrika, was die WHO empfiehlt: testen, testen, testen. Damit wird eine weitere Büchse der Pandora geöffnet. «Testen war schon während des Höhepunkts von HIV/Aids mit Stigmatisierung und Ängsten verbunden », sagt Aktivist Lucky Masibuko, der seit 30 Jahren mit HIV lebt und von Anfang an öffentlich dazu gestanden ist. «Ich beobachte heute ähnliche Mechanismen. Wie damals geht es um Tod, um Angst, um Fake News und um Ausgrenzung, die in unserer Gesellschaft tief verankert ist.»

Viele befürchten, dass sie nach einem positiven Testergebnis von der Gemeinschaft verstossen werden.

In der Tat wollen viele Menschen in den Slums nicht getestet werden. Die einen haben Angst, dass sie durch einen Test erst recht angesteckt werden könnten, wie das ein Weisser in einem Video behauptet hat. Der Glaube, dass die Weissen den Schwarzen in irgendeiner Weise böse gesinnt sind und sie letztlich mit Viren aller Art ausrotten wollen, ist fester Bestandteil des kollektiven afrikanischen Unterbewusstseins. Viele befürchten ausserdem, dass sie nach einem positiven Testergebnis von der Gemeinschaft verstossen werden. Genau so, wie es seit vielen Jahre mit HIV-Positiven geschieht.

Diese Mischung aus Ausgrenzung, Angst, Korruption und grassierender Armut findet sich nicht nur in Südafrika, sondern auf dem ganzen Kontinent. Sie ist es, die Afrika auf die Probe stellen wird.