Wir haben allen Grund, uns zu fürchten. Wir können zurzeit nicht abschätzen, wie lange diese Krise andauern und wohin sie uns noch führen wird. Es fehlt nicht an dramatischen Prognosen. Die Corona-Pandemie wird verglichen mit der Spanischen Grippe von 1919 und der Grossen Depression der 1930er-Jahre. Solche Szenarien wecken natürlich auch Befürchtungen, was die gesellschaftlichen und die politischen Folgen der Pandemie angeht. Denn das Virus betrifft uns zwar alle, aber eben nicht alle gleich. Wir haben aber auch immer noch Grund zur Hoffnung. Denn wir können jetzt die richtigen Entscheidungen treffen. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht. Die erste Reaktion auf die Pandemie brachte auch eine Welle von Menschlichkeit und Solidarität hervor. Vernachlässigte Themen wie beispielsweise die Care-Arbeit standen plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und wir können aus den Erfahrungen von zwei Krisen lernen, bei denen die Menschenrechte über Bord geworfen wurden: die Anschläge vom September 2001 und die Finanzkrise von 2008.
Keine Sicherheit ohne Menschenrechte
Die Reaktion der Staaten auf die Anschläge von 9/11 war ein permanenter und globaler «Krieg gegen den Terror», der die Welt nicht sicherer gemacht hat, sondern zu noch mehr Krieg, Folter und Terror geführt hat. Global wachsende Budgets für Militär und Geheimdienste, schwindende Ressourcen für Entwicklung, soziale Gerechtigkeit und Gesundheit: Der enge Fokus auf die Bedrohung durch Terror verstellte auch den Blick für Gefahren, wie sie uns heute treffen. Auch die Antwort der Staaten auf die Finanzkrise von 2008 belastet uns noch heute. Manche Staaten, die die Banken mit Milliarden vor der Pleite retten mussten, schlitterten in eine Schuldenkrise und bauten unter Druck soziale Leistungen wie Renten und Gesundheitsversorgung ab. Auf die Missachtung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte vieler Menschen folgte die Angst vor sozialem Abstieg in Europa – und damit verbunden eine Welle von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Populismus. Konkret fehlten nun in den von der Schuldenkrise besonders betroffenen Ländern wie Italien oder Spanien die Spitalbetten und die Ressourcen zur Bekämpfung der Corona-Krise. Ganz zu schweigen von den Ländern im globalen Süden.
Ein Kompass durch die Krise
Eine Reaktion auf die Corona-Krise, die die Menschenrechte missachtet, können wir uns heute schlicht nicht leisten. Die Menschenrechte wurden nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs geboren und können auch in der aktuellen Krise als Kompass dienen. Sie liefern zwar keine Handlungsanleitung für die Gesundheitspolitik oder für die Wirtschaft. Aber sie bieten Regeln, Prinzipien und Orientierung, die auch in dieser Krise Leben retten können. Und sie helfen, die Benachteiligten und Diskriminierten nicht zurückzulassen.
Vergessen wir nicht, dass die Pandemie mit der Verletzung der Meinungsfreiheit ihren Ausgang genommen hat, als die ÄrztInnen in China, die als Erste über die Krankheit berichtet hatten, zensuriert und verfolgt wurden. Weitere Staaten reagierten mit Einschränkungen der Menschenrechte, etwa der Versammlungsfreiheit – in demokratischen Ländern häufig begleitet von der Versicherung, dass die Massnahmen nun nötig seien, aber «so bald wie möglich» aufgehoben würden.
Aber immer wieder wurde auch die Bedeutung der Menschenrechte deutlich. Zum Beispiel jene der Meinungsfreiheit, die auch das Recht auf Zugang zu Informationen einschliesst. Nach der problematischen Reaktion mit Zensur schwenkten die chinesischen Behörden um und teilten die verfügbaren Informationen über das neue Virus, damit die Forschenden in aller Welt mit der Entwicklung eines Impfstoffs beginnen konnten. Und zur Bewältigung der Bedrohung brauchen die Menschen nicht nur die Fakten der Wissenschaft, sondern auch glaubwürdige Informationen der Medien. Denn Fake-News führen hier direkt ins Verderben.
An vorderster Front bei der Pandemie-Bekämpfung standen PflegerInnen und ÄrztInnen, der ganze Bereich der Care-Arbeit vom Kinderhüten bis zur Altenpflege, die überwiegend von Frauen geleistet wird – und nur schlecht oder gar nicht bezahlt wird. Die Corona-Krise zeigt endlich breiten Kreisen die Bedeutung dieser Arbeit als systemrelevant auf, und Forderungen nach gerechtem Lohn und fairen Arbeitsbedingungen finden mehr Unterstützung.
Ein eindrückliches Zeichen der Solidarität in der Gesellschaft war die Bereitschaft der Menschen, auf ihre persönlichen Freiheiten zu verzichten und zu Hause zu bleiben, um die älteren und verletzlichen Personen zu schützen. Spontan entwickelten sich auch Hunderte von Initiativen der Nachbarschaftshilfe. Vieles erschien plötzlich möglich. Ein verlangsamtes Leben mit weniger Konsum, Verkehr und Betrieb. Ein Leben, in dem Gesundheit und Freundschaften mehr zählen.
Bald zeigte sich auch, dass liberale Demokratien wie die Schweiz oder Deutschland die Krise besser meistern als Länder, die von Populisten wie Trump, Bolsonaro oder Johnson regiert werden. Selbst Überwachungsmassnahmen wie etwa die Schweizer App für das Contact-Tracing, versprechen Transparenz, Freiwilligkeit und Datenschutz. Ohne diese menschenrechtlichen Prinzipien wären solche Massnahmen weder vertrauenswürdig, noch würden sie von der Bevölkerung akzeptiert werden.
Alternativen sind denkbar
Gefordert waren und bleiben in dieser Krise vor allem die Staaten. Die Staaten, die noch vor Kurzem möglichst schlank sein sollten und die durch den globalen Steuerwettbewerb so geschwächt werden, dass sie ihre Aufgaben kaum mehr leisten können. Reagiert haben die Staaten fast alle mit Grenzschliessungen. Die Globalisierung scheint aufgehoben. Das Flüchtlingsrecht ausgesetzt. Doch die Einsicht wird sich durchsetzen, dass das Virus nicht an Grenzen haltmacht und dass es internationale Zusammenarbeit braucht, wenn wir bei der Corona-Bekämpfung Erfolg haben wollen. Dass wir die ärmeren Länder und die Konfliktregionen unterstützen müssen, damit auch sie die Pandemie erfolgreich bekämpfen können. Denn ohne ihren Erfolg werden auch wir keinen haben, zumindest nicht, solange es keine Impfung gibt.
Wir sollten diese Krise nutzen, um die wichtigen Fragen zu stellen. Wenn wir die Wirtschaft auf einen Schlag anhalten und danach auch wieder starten können, warum soll es dann nicht möglich sein, Regeln für Konzerne einzuführen, damit diese die Menschenrechte respektieren? Warum nicht eine Wirtschaft entwickeln, die umweltverträglich ist und die Klimaziele umsetzt? Eine Gesellschaft gestalten, die keinen zurücklässt?
Wir haben weiterhin Grund, uns zu fürchten, aber wir haben auch Grund zur Hoffnung. Wenn jetzt Entscheidungen gefällt werden, müssen wir uns einmischen und auf Menschlichkeit und Solidarität setzen.