Eine unheimliche Stille lag über der Chandni Chowk, der langen, beliebten Hauptstrasse in Alt-Delhi. Nach Einbruch der Dunkelheit waren Hunderte Männer aufgetaucht. Sie stellten sich in die auf dem Boden markierten Kreise – auch hier war Social Distancing angesagt. In zwei endlosen Reihen standen sie für eine Gratismahlzeit an. Keiner wollte seinen Teller mit Fladenbrot, Reis, Linsen und Gemüse verpassen. In der Hocke warteten sie regungslos. Auf ihrer einen Seite die Gurudwara Sis Ganj Sahib, eine historische Kultstätte der Sikh, wo täglich Tausende Mahlzeiten verschenkt werden, auf der anderen Seite die monumentale Silhouette des beleuchteten Roten Forts. Dann begann die gewaltige Verteilaktion. Die Männer erhoben sich alle gleichzeitig, folgten den Anweisungen und bewegten sich von einem Kreis zum nächsten. Diese Arbeiter waren früher die Seele der Hauptstadt. Jetzt bildeten sie ein stummes Ballett von Menschen, denen nichts mehr geblieben ist. Aktuelle Misere zwischen historischem Prunk.
«Einen der striktesten Lockdowns der Welt begleitete die Regierung mit einem der magersten Hilfspakete überhaupt.» Reetika Khera, Ökonomin und Soziologin
All die TagelöhnerInnen, Hilfskräfte und Handlanger aus Uttar Pradesh, Bihar oder Bengalen waren über Nacht zu BettlerInnen auf den Strassen der Hauptstadt geworden. Die Einführung des Lockdowns in Indien am 25. März hatte sie ins Elend gestürzt. Premierminister Narendra Modi, der letztes Jahr mit einem hinduistisch-nationalistischen Programm triumphierend wiedergewählt wurde, hatte der Bevölkerung nur gerade vier Stunden Zeit gegeben, sich auf die Aussetzung des öffentlichen Verkehrs und die Stilllegung des Landes vorzubereiten. In dem Staat mit 1,3 Milliarden EinwohnerInnen und einem fragilen ökonomischen Gleichgewicht wurde kaum etwas getan, um die Auswirkungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung etwas abzufedern. «Die Regierung muss die volle Verantwortung für diese humanitäre Krise übernehmen, die durch die schlechte Vorbereitung des Lockdowns ausgelöst wurde», fordert Reetika Khera, Ökonomin und Soziologin. «Einen der striktesten Lockdowns der Welt begleitete die Regierung mit einem der magersten Hilfspakete überhaupt (0,5 Prozent des BIP). Und das in einem Land, in dem 76 Prozent der Arbeitsplätze als gefährdet gelten.» Millionen von Inderinnen und Indern waren plötzlich mittellos, weit entfernt von ihren Heimatdörfern. «Die Regierung hat nicht berücksichtigt, dass ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung aus Tagelöhnern ohne Anspruch auf Sozialversicherung oder Arbeitslosengeld besteht», unterstreicht Reetika Khera. «Für Millionen von Menschen bedeutet dies Hunger, eine sich verschlechternde Gesundheit, Unsicherheit und Angst.»
Prügel bei Missachtung
Diese neuen Mittellosen bevölkerten nun die geschlossenen Märkte von Delhi. Plaudernd sassen sie nebeneinander vor den zugezogenen Vorhängen der Geschäfte oder dösten auf dem Trottoir. Das Herz der 20-Millionen-Metropole wurde zu einem Schlafsaal unter freiem Himmel. «Warum durften wir nicht in unsere Dörfer zurückkehren?», empörte sich Naveen Kishore, 45, Arbeiter in einer Teppichfabrik. Er trug eine Jacke, deren Alter nicht mehr zu erkennen war, als er in der Nähe der grossen Jama-Masjid-Moschee für eine kostenlose Mahlzeit anstand. «Wir haben gar nichts mehr… Es wäre einfacher, die Sache mit einer Kugel zu erledigen!» Um ihn herum ereiferten sich rund 20 Männer, viele von ihnen trugen Masken oder Schals über dem Gesicht. Weil es keine Transportmöglichkeiten gab, sassen auch sie in der Hauptstadt fest und konnten nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren.
Mittlerweile wurden die Stadtviertel von Delhi von der Polizei verbarrikadiert, um die Einhaltung der Massnahmen zu erzwingen. Auf dem Shahstri Market setzten sie gar Schlagstöcke ein, um Geschäfte zu schliessen, die ihre Türen öffnen wollten. «In der Nacht kamen Polizisten und schlugen uns, wir mussten von einem Trottoir zum nächsten fliehen», erzählte Naveen Kishore. Die soziale Hierarchie in Indien, das Kastensystem und der grassierende Rassismus führten dazu, dass vor allem Minderheiten betroffen waren, insbesondere muslimische Menschen und Dalit, die man früher «Unberührbare » nannte. Sie wurden nun beschuldigt, das Virus verbreitet zu haben. Unter den Ärmsten ist die Angst vor dem Hunger stärker als jene vor dem Coronavirus. Doch angesichts der Bevölkerungsdichte und wegen der Mängel im Gesundheitssystem mit einer schlechten Ausstattung der Spitäler bleibt die Furcht vor einer Explosion der Krankheitsfälle weiterhin gross. «Natürlich haben wir Angst, aber was können wir tun?», sagte der 27-jährige Umar Salman, der bisher in einer Druckerei 500 Rupien (6 Franken) pro Tag verdient hatte. «Ich trage eine Maske. Aber wir haben kein Geld, um uns in den öffentlichen Duschen zu waschen. Wir, die Armen, werden das Virus verbreiten, wenn die Regierung uns nicht hilft!» Mohammed Hader Ali, ein 34-jähriger T-Shirt-Verkäufer, betonte: «Hier hat niemand das Virus. Aber sobald jemand erkrankt, werde ich es auch kriegen.» Soziale Distanzierung ist in diesem Umfeld, wo alle auf kleinstem Raum zusammenleben, nicht denkbar. Ein Lockdown zur Pandemiebekämpfung war damit von vornherein äusserst schwierig. Mohammed Hader Ali fügte an: «In Indien werden die Leute gerettet, die Geld haben, während die Armen sich selbst überlassen werden und leiden.»
Kluft wird grösser
Trotz Unterstützungsversprechen seitens der Regierung sind die Auswirkungen bei jenen Bevölkerungsteilen, die ihre Lebensgrundlage verloren haben, enorm. «Die indische Wirtschaft befand sich bereits vor der Pandemie in schlechtem Zustand, und die aktuelle Krise wird eine starke Rezession auslösen», so die Einschätzung von Paranjoy Guha Thakurta, Autor und politischer Kommentator. «Die Kluft zwischen Arm und Reich wird noch grösser werden.»
«Die Kluft zwischen Arm und Reich wird noch grösser werden.» Paranjoy Guha Thakurta, Autor und politischer Kommentator
Bürgerinnen und Bürger sowie NGOs versuchen in der Hauptstadt, den Mittellosen zu helfen. Solidarität und Grosszügigkeit zeigen sich in Suppenküchen, die an Strassenecken organisiert werden. Hier öffnet jemand eine Truhe, um Kisten mit Lebensmitteln zu verteilen; dort fahren Jugendliche auf Rollern vor, mit Töpfen voller Essen, das ihre Mütter zubereitet haben. «Es ist unsere Pflicht, die Ärmsten zu ernähren», meint Amrit Pal Singh, zuständig für die Verteilaktionen an der Gurudwara am Chandni Chowk. «Religiöse Differenzen oder Kastenunterschiede dürfen dabei keine Rolle spielen.»
«Es wird immer schwieriger, die Leute in Not zu versorgen », sorgt sich Deepak Das, ein Freiwilliger der Organisation Karwan-e-Mohabbat. Seine Organisation wurde von Harsh Mander gegründet, einem bekannten Menschenrechtsaktivisten. Auch er warnt: «Die Zeiten sind schrecklich. Ich fürchte, die Armen werden leiden wie seit Jahrzehnten nicht mehr.»