Ende Juni rettet die Crew des italienischen Schiffs Mare Jonio aus Libyen kommende Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten auf dem Mittelmeer aus Seenot. Nach der Ankunft in einem sizilianischen Hafen werden 28 von ihnen positiv auf das neuartige Coronavirus getestet. Diese vergleichsweise hohe Zahl wirft ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass die Zahl der in Libyen bekannten Fälle vermutlich sehr weit von der Realität entfernt ist. In dem nordafrikanischen Bürgerkriegsland wurden bis zum 3. Juli nur 824 Infektionen gemeldet. Angesichts der politischen und humanitären Situation in der seit 2011 umkämpften Erdölnation ist es wahrscheinlicher, dass die Zahl nur wegen fehlender Tests so tief liegt.
Trotz der Corona-Pandemie haben die Widersacher mehrere Aufforderungen der Vereinten Nationen zu einem Waffenstillstand ignoriert.
Sicher ist dagegen, dass die Corona-Pandemie MigrantInnen, Kriegsvertriebene und die übrige Bevölkerung nicht nur medizinisch hart getroffen hat, seit am 24. März der erste Fall bekannt wurde. Die international anerkannte Regierung von Ministerpräsident Fayez al-Sarradsch in Tripolis im Westen des Landes und die rivalisierende Regierung im Osten ergriffen Massnahmen, um die Verbreitung des Virus zu verhindern: Schulen, Märkte und einige Unternehmen wurden geschlossen. Den Kriegsparteien war bewusst, dass Libyens Gesundheitssystem aufgrund der jahrelangen Kämpfe schon vor der Pandemie kurz vor dem Kollaps stand. Trotz der Corona-Pandemie haben die Widersacher mehrere Aufforderungen der Vereinten Nationen zu einem Waffenstillstand ignoriert. Einzig seine Offensive auf die Hauptstadt Tripolis musste der im Osten basierte General Haftar im Juni nach über einem Jahr aufgeben und seine Truppen zurückziehen. Grund für die militärische Niederlage Haftars war das Eingreifen der Türkei mit Kampfdrohnen auf der Seite der Regierung in Tripolis – trotz eines internationalen Waffenembargos.
Hoffnungsort Gefängnis
Die monatelangen Kämpfe um Tripolis haben Hunderte getötet und 220'000 Menschen aus ihren Häusern oder Wohnungen vertrieben, so die jüngsten Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Insgesamt sind in Libyen nun mehr als 400 000 Menschen intern vertrieben – zusätzlich zu den mehr als 650'000 ins Land gekommenen Flüchtlingen und MigrantInnen, die hier unter schwierigsten Umständen zu überleben versuchen. Infolge der Corona-Krise haben viele ihre Gelegenheitsjobs verloren, mit denen sie sich bisher über Wasser hielten. Jetzt haben sie kein Geld mehr, um sich Essen zu kaufen. Dazu kommt, dass die Lebensmittelpreise infolge der Corona-Krise drastisch gestiegen sind. In Tripolis ist der Preis für Grundnahrungsmittel wie Getreide, Eier und Gemüse mittlerweile um die Hälfte gestiegen, in anderen Städten kosten etliche Produkte doppelt so viel wie vor der Krise.
Mounir Abdallah war zwischenzeitlich so verzweifelt, dass er dachte, es würde ihm in einem Internierungslager besser gehen als mit seiner Familie auf sich selbst gestellt in den Strassen des umkämpften Tripolis. Natürlich hatte der Eritreer, der 2018 nach Libyen floh, von den furchtbaren Verhältnissen in den libyschen Internierungslagern gehört. «Aber ich habe keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als mich mit meiner Familie freiwillig in einem solchen Lager zu melden.» Mounir ist einer von etwa 46'000 Flüchtlingen, die das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Libyen registriert hat. Die meisten schlagen sich irgendwie durch. Rund 2000 Geflohene werden von der Regierung unter Ministerpräsident Fayez al-Sarradsch in Internierungslagern festgehalten. Dort herrschten «KZ-ähnliche Verhältnisse», schrieb die deutsche Botschaft in Niger laut der «Welt am Sonntag» bereits 2017 an das Bundeskanzleramt und mehrere Ministerien.
In eins dieser Lager ging Mounir freiwillig im Februar oder März vergangenen Jahres. An den genauen Zeitpunkt könne er sich nicht mehr erinnern, erzählt er. Das Gefühl für Zeit ist ihm offenbar abhandengekommen in den Monaten, in denen er auf seinem Weg durch Libyen an unterschiedlichen Orten, auf unterschiedliche Weise und von unterschiedlichen Peinigern gequält wurde. Die Wangen des 27-jährigen Familienvaters sind eingefallen, und seine Haare werden bereits grau.
Ihre Peiniger verlangten 3700 US-Dollar für die Freiheit von Mounir, seiner Frau und ihrem Sohn.
Menschenhandel
Mounirs Qualen hatten mit neun Monaten Haft in Eritrea begonnen. Das war die Strafe für seinen Versuch, dem lebenslangen Militärdienst durch Flucht zu entgehen. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis versuchte er es noch einmal, und schliesslich gelang ihm die Flucht in den Sudan. Von dort floh er 2018 weiter nach Libyen, inzwischen mit einer Frau und einem Kind. Aber schon kurz hinter der sudanesisch-libyschen Grenze «wurden wir von unserem Schlepper verkauft». Von den «Käufern», einer kriminellen Gang, wurde die Familie in eine Oase weiter nördlich verschleppt. «Da fingen sie an, uns zu foltern und die Frauen zu vergewaltigen.» Ihre Peiniger verlangten 3700 US-Dollar für die Freiheit von Mounir, seiner Frau und ihrem Sohn.
Mounirs Familie in Eritrea brauchte fünf Monate, um wenigstens 3000 Dollar aufzutreiben. Die Kriminellen, in deren Gewalt Mounir war, akzeptierten die Summe und liessen ihn mit den Seinen frei. Aber die kurze Freiheit endete wenig später in Bani Walid. Die Stadt knapp 200 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Tripolis ist mittlerweile als «Zentrale» besonders brutaler Folterzentren bekannt. Über die Zeit dort will Mounir möglichst wenig nachdenken und schon gar nicht reden. Sie hätten fünf Monate lang «viele unmenschliche und grausame Erfahrungen» gemacht, sagt er nur. Sein Blick lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht weiter gefragt werden möchte. Nachdem ihre Familie 6000 Dollar geschickt hatte, kamen sie erneut frei. Mounirs Frau war mittlerweile mit dem zweiten Kind hochschwanger. Die Folterknechte, in deren Gewalt sie gewesen waren, organisierten sogar die Fahrt bis nach Tripolis – das sei in der Summe enthalten gewesen, sagt der Eritreer.
«Am nächsten Tag wollten wir uns beim UNHCR in Tripolis als Flüchtlinge registrieren lassen», berichtet Mounir. «Aber dort wurden wir erst einmal abgewiesen.» Erst beim Anblick seiner hochschwangeren Frau habe man sie doch registriert – und anschliessend mit leeren Händen weggeschickt. Mounir erzählt dann noch, wie seine Frau wenige Tage später nur dank der Hilfe von wildfremden LibyerInnen ihr Kind in einem Krankenhaus zur Welt bringen konnte. Nach der Niederkunft sei er nochmals zum UNHCR gegangen und habe wieder um Hilfe gebeten. «Sie gaben mir 700 Dinar», etwa 180 US-Dollar. Zu wenig, um eine Unterkunft für seine Frau, das Neugeborene und den zweieinhalbjährigen Sohn zu mieten, um Lebensmittel zu kaufen und um überleben zu können. Mounir wusste keinen anderen Ausweg mehr, als mit seiner Familie in das Internierungslager von Qasr bin Gashir zu gehen, ein Lager in der Nähe des internationalen Flughafens von Tripolis. Dort seien damals etwa 700 Menschen interniert gewesen, meint Mounir. «Viele von ihnen hatten Krätze, das Wasser war salzig, das Essen viel zu wenig und schlecht. Das Leben dort war unerträglich.»
Mounir lebte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern auf der Strasse – am Leben gehalten durch Lebensmittelspenden von LibyerInnen, die dem Elend der Flüchtlinge nicht tatenlos zusehen können.
Dann geriet das Lager zwischen die Fronten des eskalierenden Bürgerkriegs. Am 23. April wurde es von Kämpfern der «Libysch-Nationalen Armee» (LNA) überrannt, den Truppen unter dem Kommando von General Khalifa Haftar, der im April von Osten aus eine Offensive gegen die Regierung in Tripolis gestartet hatte. «Die Kämpfer schossen wahllos um sich.» Mounir zeigt auf seinem Handy ein Video, das seine Worte untermauert. Nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen gab es mehrere Tote, mindestens ein Dutzend Menschen wurden verletzt. Mounir und seine Familie gelangten durch den Angriff in die ungewollte Freiheit, denn die Wärter des Internierungslagers waren bei den ersten Schüssen geflohen. Von da an lebte er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern wieder auf der Strasse – am Leben gehalten durch Lebensmittelspenden von LibyerInnen, die dem Elend der Flüchtlinge nicht tatenlos zusehen können.
Mangel an allem
In Tripolis beklagten viele Flüchtlinge, dass sie sich vom UNHCR allein gelassen fühlten. «Unsere Mittel sind begrenzt», erwiderte die damalige UNHCR-Sprecherin Paula Barrachina Esteban im September 2019. «Wir können nur mit dem helfen, was wir bekommen.» Das Flüchtlingshilfswerk hat für 2019 nur die Hälfte der für Libyen beantragten Gelder erhalten, rund 40 Millionen US-Dollar. Von allem hat das UNHCR zu wenig: zu wenig Geld, zu wenig Plätze für das Resettlement, also die Aufnahme in einem sicheren Drittstaat, zu wenig andere Lösungen. Wegen der Kämpfe und der Macht der Milizen sind viele Landesteile für die Helfenden unzugänglich, und trotz aller Vorsicht geraten sie immer wieder auch selbst in die Schusslinie.
Zu dem Mangel, unter dem das UNHCR leidet, gehört auch das fehlende politische Gehör. Regelmässig fordert das Uno-Flüchtlingshilfswerk mehr Resettlement- Plätze und mehr Geld für die Flüchtlinge, die auf sich selbst gestellt in den Städten leben. Durch die Corona-Pandemie ist deren Lage noch härter geworden. So verwundert es nicht, dass die Zahl derer steigt, die die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagen. Nach den jüngsten Zahlen der IOM vom Mai ist ihre Zahl in den ersten Monaten dieses Jahres doppelt so hoch wie 2019. Bis Anfang Juli ertranken im Mittelmeer bereits 217 MigrantInnen, die Libyen Richtung Europa verlassen wollten.