Weltweit engagieren sich seit 2017 Zehntausende AktivistInnen für die angeklagten MenschenrechtsverteidigerInnen in der Türkei. © Amnesty International
Weltweit engagieren sich seit 2017 Zehntausende AktivistInnen für die angeklagten MenschenrechtsverteidigerInnen in der Türkei. © Amnesty International

MAGAZIN AMNESTY Brennpunkt: Türkei Die unendliche Farce

Von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom August 2020.
4 von 11 in der Türkei angeklagten MenschenrechtsverteidigerInnen wurden zu Haftstrafen verurteilt, obwohl keine Beweise gegen sie vorlagen.

Sie hofften, endlich Gerechtigkeit zu erhalten. Die 11 in der Türkei angeklagten MenschenrechtsverteidigerInnen hatten guten Grund, daran zu glauben, endlich von den unhaltbaren Vorwürfen gegen sie freigesprochen zu werden. Fast drei Jahre hatten sie gegen die Vorwürfe, ein Terrornetzwerk unterstützt zu haben, angekämpft. Sie hatten lange in Untersuchungshaft gesessen, Verhandlung um Verhandlung durchgestanden und dabei immer wieder die unbewiesenen, fadenscheinigen Vorwürfe der Staatsanwaltschaft anhören müssen.

Nun hoffte man auf einen Abschluss des sogenannten Büyükada-Falls, benannt nach der Insel, auf der zehn der MenschenrechtsverteidigerInnen 2017 verhaftet wurden, während sie an einen Workshop teilnahmen. Taner Kılıç, der damalige Präsident von Amnesty Türkei, war bereits zuvor verhaftet worden. Doch dann, am 3. Juli 2020, der Schock. Das erstinstanzliche Gericht fällte sein Urteil und verurteilte Taner Kılıç wegen «Mitgliedschaft in der Terrororganisation Fethullah Gülen FETÖ» zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten; die ehemalige Direktorin von Amnesty Türkei İdil Eser und die Menschenrechtsverteidiger Günal Kurşun und Özlem Dalkıran wurden wegen «wissentlicher und vorsätzlicher Unterstützung der FETÖ» zu je 25 Monaten Haft verurteilt. Die übrigen sieben MenschenrechtsverteidigerInnen wurden freigesprochen.

Grundlose Verunglimpfungen

Dabei hatte sich an der Ausgangslage nichts geändert, und diese hätte eigentlich nur in einem kompletten Freispruch für alle resultieren dürfen, denn für die Anschuldigungen gab es keinerlei stichhaltige Beweise. «Während 12 Gerichtsverhandlungen wurde jede einzelne Anschuldigung umfassend als grundlose Verunglimpfung entlarvt», sagte Andrew Gardner, Türkei-Experte bei Amnesty International, vor Prozessbeginn. Taner Kılıç, dem vorgeworfen wurde, eine App zu verwenden, die ihn mit «FETÖ» in Verbindung brachte, wurde selbst durch die Untersuchungen der Polizei vollumfänglich entlastet. Zwei Polizeiberichte waren – wie vier unabhängige forensische Untersuchungen zuvor – zum Ergebnis gekommen, dass es keinerlei Hinweise dafür gibt, dass die App auf dem Smartphone von Taner Kılıç installiert war.

Die Behörden hatten die Gerichtsverhandlungen immer wieder hinausgezögert. Mit dieser nervenaufreibenden Taktik sollen unschuldige Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen mürbe gemacht werden. «Dies war von Anfang an ein politisch motivierter Prozess, genau wie so viele weitere gegen andere Menschenrechtsverteidiger, Journalistinnen, Anwältinnen, Akademiker und Aktivistinnen», sagte İdil Eser. «Diese Anklagen haben zum Ziel, Aktivisten und Aktivistinnen auf der Anklagebank zum Schweigen zu bringen. Sie senden gleichzeitig eine Botschaft an den Rest der Gesellschaft: Wer sich für die Menschenrechte einsetzt, tut das auf eigene Gefahr.» Die Verurteilten geben nicht auf und gehen in die Berufung, bis dahin bleiben sie auf freiem Fuss. Günal Kurşun, einer der Verurteilten, ein ehemaliges Vorstandsmitglied von Amnesty Türkei, sagte: «Was auch immer das Urteil sein wird, ich bleibe ein Menschenrechtsverteidiger.»