Es ist nur ein kurzer Satz, ein paar Worte, die alle verstehen können: «Quédate en casa.» – «Bleib zu Hause.» Ständig bittet der mexikanische Epidemiologe Hugo López-Gatell seine Mitmenschen, das Haus nur zu verlassen, wenn es unbedingt nötig ist. López-Gatell ist der Regierungsbeauftragte für die Covid- 19-Pandemie. Doch auch er weiss, dass sein Appell in vielen Ohren wohlfeil klingt. Denn für die Hälfte der Bevölkerung gilt: Wer heute nicht fremde Wohnungen putzt, auf dem Markt T-Shirts verkauft, für einen Tagelohn Tomaten erntet oder auf einem Parkplatz Autos einweist, hat morgen nichts zu essen. Ähnlich sieht es in den meisten lateinamerikanischen Staaten aus: Ob in El Salvador, Venezuela, Peru oder Bolivien: Mindestens 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind im informellen Sektor tätig. Häufig sogar noch mehr.
Wer kann es sich überhaupt leisten, zu Hause zu bleiben?
Wer also kann es sich überhaupt leisten, zu Hause zu bleiben? Und wie sollen sich Menschen die Hände waschen, wenn das Wasser nur selten und nur spärlich oder gar nicht aus dem Hahn läuft? «45 Prozent der Haushalte leben in prekären Wohnverhältnissen, die keine ausreichenden sanitären Anlagen haben und völlig überbelegt sind», erklärt der ecuadorianische Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta. Arbeit im Homeoffice ist unter diesen Umständen kaum denkbar, zumal nicht alle einen Computer sowie Zugang zum Internet haben. «Die Pandemie legt die sozialen Ungleichheiten offen», sagt Acosta, «und führt zu einer Zunahme von Armut und Gewalt.»
Es fehlt an allem
Zu diesem Schluss kommt auch die Uno-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal. Die Staaten des Subkontinents hätten bereits vor der Pandemie ein geringes Wachstum verzeichnet, wegen Covid- 19 werde es zum «schlimmsten wirtschaftlichen Zusammenbruch seit 1930» kommen, prognostiziert Cepal. Schon jetzt sind etwa 30 Prozent der 625 Millionen Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner arm, weitere 30 Millionen könnten hinzukommen. Die Existenz zahlreicher kleiner und mittlerer Betriebe ist gefährdet, die Arbeitslosigkeit wird voraussichtlich deutlich zunehmen. Besonders betroffen sind Frauen, beispielsweise jene zehn Millionen, die ohne rechtliche Absicherung als Hausangestellte tätig sind. Auch die sexuelle Gewalt hat zugenommen: Mexiko verzeichnete in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 1618 Morde an Frauen – 5,4 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2019.
Obwohl die Pandemie erst spät in Lateinamerika angekommen ist und die Regierungen damit mehr Zeit hatten, sich vorzubereiten, ist die Eindämmung schwer. Das hat auch damit zu tun, dass einige Regierungen die Gefahr nicht ernstnehmen. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro leugnete die Risiken beharrlich, der mexikanische Staatschef Andrés Manuel López Obrador genoss noch Wochen nach Ausbruch des Virus das Bad in der Menge, und der nicaraguanische Machthaber Daniel Ortega rief zu Massenversammlungen gegen die Pandemie auf.
Auch unabhängig vom Gebaren einiger Präsidenten hat Lateinamerikas Gesundheitspolitik mit schwierigen strukturellen Bedingungen zu kämpfen. Märkte und Verkehrsmittel sind überfüllt mit Menschen, die arbeiten müssen, viele Haushalte können nötige Hygienemassnahmen nicht einhalten, heruntergewirtschaftete Gesundheitssysteme verhindern eine adäquate Behandlung. Es fehlt an allem – an Beatmungsgeräten, Betten, Personal. In Mexiko lehnten Ärztinnen und Ärzte Corona-Behandlungen ab, weil sie keine Schutzkleidung hatten. Immer wieder werden Medizinerinnen und Mediziner körperlich angegriffen, weil sie verdächtigt werden, das Virus zu übertragen. In der ecuadorianischen Grossstadt Guayaquil weigerten sich Bestatter und Gerichtsmedizinerinnen, Tote zu untersuchen und abzuholen. Hunderte von Leichen verwesten in den Häusern oder auf der Strasse.
Mehr Repression
Die drohende humanitäre Katastrophe ist das Ergebnis korrupter Strukturen und einer jahrelangen liberalen Wirtschaftspolitik, die viele Gesundheitssysteme zerstört oder deren Entwicklung verhindert hat. Nun bekommen vor allem die Armen zu spüren, dass Regierungen soziale Menschenrechte ignorieren, zu deren Einhaltung sie sich international verpflichtet haben. Staaten können kein «Höchstmass an körperlicher Gesundheit» garantieren, weil das für eine gute Versorgung nötige Geld woanders gelandet ist.
Nun bekommen vor allem die Armen zu spüren, dass Regierungen soziale Menschenrechte ignorieren.
Haushalte haben kein fliessendes Wasser, weil die Quellen privatisiert wurden. Für soziale Absicherungen wie Arbeitslosengeld fehlen die Ressourcen, weil Firmen kaum Steuern zahlen. Die wegen der Corona- Krise steigende Staatsverschuldung wird diese Verhältnisse weiter verschlechtern.
Schon jetzt haben die prekären Bedingungen in einigen Staaten zu einer Zunahme repressiver Massnahmen geführt. In der Dominikanischen Republik wurden innerhalb eines Monats 27 000 Menschen inhaftiert, weil sie gegen die Maskenpflicht und andere Beschränkungen verstossen hatten. El Salvadors Präsident Nayib Bukele lässt Personen, die sich unerlaubt auf der Strasse bewegen, 30 Tage lang in sogenannte Eindämmungszentren sperren. Mehrere Tausend Frauen und Männer landeten bereits in diesen Lagern. Immer wieder berichteten Betroffene, dass sie sich erst dort mit Covid-19 infiziert hätten. Dass ein Richtergremium des Verfassungsgerichts die Inhaftierungen untersagte, störte den Staatschef nicht. «Fünf Personen werden nicht über den Tod von Hunderttausenden Salvadorianern entscheiden », sagte er nach dem Urteil und schickte das Militär, um im öffentlichen Leben Präsenz zu zeigen.
Auch in anderen Staaten lässt sich eine Militarisierung beobachten. In Honduras gingen Sicherheitskräfte gegen Hungerproteste vor, in Chile griff die Polizei Demonstrierende an, die die mangelnde Versorgung kritisierten. «Wenn uns das Virus nicht tötet, tötet uns der Hunger», hiess es auf Transparenten.
Repression schützt nicht
«Die Regierungen irren, wenn sie meinen, dass repressive Massnahmen die Menschen vor der Krankheit schützen», sagt die Amerika-Expertin von Amnesty International, Erika Guevara-Rosas. Doch keine der Regierungen verfügt über ausreichend Ressourcen, um den Prozess der Verarmung zu stoppen und die Gesundheitssysteme kurzfristig zu stabilisieren. Zwar haben einige Länder Massnahmen ergriffen, um die Folgen der Krise für die arme Bevölkerung zu lindern, doch ist die Skepsis gross. «Wir sind in einer Situation, in der das Vertrauen der Bürger in die Institutionen zusammenbricht», warnt Marcela Ríos, die für Chile zuständige Vertreterin des Uno-Entwicklungsprogramms.
Dieses Misstrauen ist nicht neu. Bereits vor der Pandemie demonstrierten in der chilenischen Hauptstadt Santiago Hunderttausende gegen ein Wirtschaftssystem, das das Gesundheitssystem ruinierte. Damals sei es um die Würde gegangen, nun gehe es ums Überleben, sagen sie heute und fordern den Rücktritt des Präsidenten. In Mexiko haben viele indigene Gemeinden ihr Vertrauen in die Regierung schon längst verloren und organisieren sich selbst. Sie wissen, dass der Staat ihnen keine Krankenhausbetten bieten kann. Um sich vor dem Virus zu schützen, haben sie sich von der Aussenwelt abgeschottet. Nicht zuletzt solche Bewegungen werden darüber entscheiden, ob Lateinamerika aus der Pandemie Konsequenzen zieht und ob das Menschenrecht auf Gesundheit durchgesetzt wird.
Covid-19: Regierungen versagen weltweit
Auf der ganzen Welt haben Staaten versagt, wenn es darum ging, Mitarbeitende des Gesundheitswesens zu schützen. Wie ein Bericht von Amnesty International von Mitte Juli aufzeigt, haben viele Regierungen nur ungenügende Schutzmassnahmen für das Gesundheitspersonal zur Verfügung gestellt. Gemäss den von Amnesty erhobenen Daten sind bisher in 79 Ländern mehr als 3000 Gesundheitsangestellte nach einer Covid-19-Infektion gestorben. Die tatsächliche Zahl liegt wohl noch um einiges höher.
In 63 der von Amnesty untersuchten Länder berichteten Gesundheitsangestellte von einem kritischen Mangel an Schutzausrüstung – dies auch in Staaten, denen der Höhepunkt der Pandemie wohl noch bevorsteht. Ein Arzt aus Mexiko sagte, dass er und seine KollegInnen rund 12 Prozent ihres Monatseinkommens aufwerfen müssten, um sich privat Schutzausrüstung zu beschaffen. Nebst unsicheren Arbeitsbedingungen gab es für viele Beschäftige keine ausreichende Bezahlung, ÄrztInnen im Südsudan erhielten seit Februar überhaupt kein Gehalt mehr. Ausserdem werden in einigen Ländern Gesundheitsmitarbeitende stigmatisiert, weil man ihnen die Verbreitung des Coronavirus unterstellt. So wurden auf den Philippinen Spitalarbeiter mit Bleichmittel angegriffen, in Pakistan wurden Spitaleinrichtungen zerstört und Ärzte angegriffen.
Damit nicht genug: In 31 Ländern beobachtete Amnesty, dass Angestellte mit Repressalien daran gehindert wurden, sich gegen die Arbeitsbedingungen zu wehren. So kam es zu Disziplinarmassnahmen und Entlassungen von Beschäftigten im Gesundheitswesen und in anderen systemrelevanten Berufsgruppen, nachdem sie ihre Bedenken kundgetan hatten. (mre)