AMNESTY: Wie geht das Evidence Lab konkret vor? Zum Beispiel wenn Sie den Einsatz von Tränengas oder die Polizeigewalt in den USA untersuchen?
Sam Dubberley: Für die Recherche zum Tränengas haben wir zuerst die Studierenden unseres Digital Verification Corps (DVC) beigezogen. Wir baten sie, Hinweise in Videos zu finden, und gaben ihnen eine Liste von Ländern, in denen wir Missbräuche vermuteten. Die Studierenden suchten nach Hinweisen für Menschenrechtsverletzungen und fanden heraus, wann und wo ein Video genau gefilmt worden war, an welcher Strassenecke in Chile etwa. Danach suchten wir Quellen, die die Informationen bestätigen. Anschliessend folgte die Analyse durch das Evidence Lab: Wie genau wurde das Tränengas eingesetzt? Wurde auf jemandes Kopf gezielt? Lag ein übermässiger Einsatz vor oder wurden Leute angegriffen, die besonders verletzlich sind im Hinblick auf den Einsatz von Tränengas? Dann klärte unser Waffenfachmann ab, welches Tränengas genau eingesetzt worden war und aus welchem Land es stammte. Zu Beirut schauten wir Videos von Leuten vor Ort an und verifizierten die Szenen. Darauf ist zum Beispiel zu sehen, wie das Militär mit Tränengas oder Gummikugeln auf die Köpfe von Leuten zielte. Das ist sehr gefährlich und deshalb in Menschenrechtsverträgen untersagt. Bei anderen Berichten arbeiten wir eher mit Satellitenbildern, so konnten wir zum Beispiel illegale Waldrodungen in Brasilien nachweisen oder die Auswirkungen von Luftangriffen im Jemen. Ausserdem konzipiert das Evidence Lab jeweils die Art der Veröffentlichung: Wir wollen unsere Erkenntnisse auf eine leicht zugängliche Art publizieren. Beim Bericht zu Polizeigewalt in den USA haben wir zum Beispiel eine Online-Karte erstellt, auf der zu sehen ist, wo welcher Vorfall stattfand.
Was ist das Digital Verification Corps?
Es ist ein globales Netzwerk, mit dem wir Studierenden beibringen, Videos und Fotos zu überprüfen, die möglicherweise Menschenrechtsverletzungen zeigen. Sieben Universitäten an verschiedenen Orten der Welt sind beteiligt, insgesamt machen etwa 100 Studierende mit. Daneben gibt es das Programm der Decoders. Diese helfen uns, grosse Datensätze zu bearbeiten; ihre Aufgaben sind aber einfacher: Es geht vorwiegend um Ja/Nein-Antworten.
Die Studierenden des DVC werden teilweise mit gewalttätigem Bildmaterial konfrontiert.
Wir ermöglichen den Studierenden Supervision, damit sie lernen, mit diesen Bildern umzugehen. Und wir versuchen sicherzustellen, dass sie nicht zu viel Gewalt sehen. Um für uns aktiv zu sein, ist der Umgang mit Bildern von Menschenrechtsverletzungen leider notwendig. Aber wir kümmern uns um die Studierenden.
Wie geht es Ihnen selbst, wenn Sie solche Videos anschauen müssen?
Es ist natürlich nicht leicht. Aber es gehört zum Beruf. Ich habe früher fürs Fernsehen gearbeitet, ich bin seit 20 Jahren mit schlimmen Bildern konfrontiert. Ich musste lernen, wie ich damit umgehen kann. Es gibt immer noch Bilder, die mich erschüttern, und ich trage auch mir selbst Sorge.
Videos können gefälscht werden. Wie stellen Sie sicher, dass Sie nicht auf manipuliertes Material hereinfallen?
Es ist von zentraler Bedeutung, dass wir es nicht einfach bei der Analyse von Videos belassen. Amnesty International macht weiterhin die herkömmliche Menschenrechtsarbeit, zum Beispiel Leute interviewen. Das ist ja zum Glück auch während eines Lockdowns möglich, beispielsweise mit einer sicheren Verbindung per Internet. Wir checken unsere Informationen immer gegen, bevor wir sie veröffentlichen. Ausserdem gilt im Moment noch, dass die Technologie für Fälschungen nicht perfekt ist. Ein geübtes Auge sieht rasch, wenn ein Video manipuliert wurde. Die perfekte Fälschung eines ganzen Videoclips ist praktisch nur auf Hollywood-Niveau möglich.
Wie macht Ihre Arbeit die Welt besser?
Wir zeigen Menschenrechtsverletzungen, von denen die Leute sonst nichts wissen würden oder die von den Staaten abgestritten würden. Kürzlich haben wir eine Recherche zu Mozambique veröffentlicht, darüber wird sonst nicht oft berichtet. Wir konnten mit Videos, anderen technischen Mitteln und mit Interviews belegen, dass der Staat dort Menschenrechtsverletzungen begeht. In Myanmar konnten wir zeigen, dass die Menschenrechtsverletzungen weitergehen. Damit stoppen wir diese Vergehen zwar nicht sofort. Aber wir werfen ein Licht darauf, und die Verantwortlichen wissen, dass ihnen jemand auf die Finger schaut. Nach unserer Recherche zu den Black-Lives-Matter-Protesten wurden unsere Kollegen vor Ort zu Meetings mit Entscheidungsträgern eingeladen oder haben vor dem US-Kongress gesprochen. Selbst wenn die Vergehen nicht sofort aufhören, können unsere Ergebnisse später dazu dienen, Gerechtigkeit für die Opfer und ihre Familien einzufordern. Dazu kommen die vielen Studierenden, die wir dazu ausbilden, die Menschenrechte zu verteidigen. So tragen sie unsere Botschaft weiter. Auch unterstützt Amnesty andere Organisationen dabei, zeitgenössische Technologien für die Menschenrechtsarbeit einzusetzen.
Sind neue Technologien eher eine Gefahr oder eine Chance für die Menschenrechte?
Das ist schwierig zu beantworten. Die sozialen Medien führen einerseits zu Problemen und können einer Demokratie schaden. Andererseits decken die Leute heute mit einer Kamera und einem Mobiltelefon Menschenrechtsverletzungen auf. Dank neuer Technologien wissen wir heute über Verbrechen Bescheid, die vor 40 Jahren unbeachtet stattgefunden hätten. Und die Technologie hilft uns, viel grössere Mengen an Daten zu bearbeiten. Wir können Sachen machen, die zuvor unmöglich waren. Insgesamt sehe ich die Möglichkeiten positiv.