Claudio Marinucci kann sich ganz genau an das Datum erinnern, an dem er zum ersten Mal von N. I. Sequoyah hörte: Es war der 22. Oktober 1992. «Ich packte gerade für eine Reise in die USA, als ich in ‹10 vor 10› eine Reportage über diesen Fall sah und realisierte, dass Sequoyah in San Francisco, meinem Reiseziel, inhaftiert ist», erzählt der pensionierte Ingenieur, der in Rom aufgewachsen ist, aber seit 44 Jahren in der Schweiz lebt. «Ich wusste sofort, dass das ‹mein› Fall ist.»
N. I. Sequoyah (geboren als Billy Ray Waldon; kurz: Sequoyah) war im Februar 1992 in Kalifornien in erster Instanz zum Tode verurteilt worden. Zur Last gelegt wurden ihm Mord, Vergewaltigung und Einbruch, die er während weniger Tage im Dezember 1985 in San Diego begangen haben soll. Der Cherokee hatte bis zu seiner Verhaftung ein abwechslungsreiches Leben. Er reiste und war Esperanto-Sprachspezialist. In den 1980er-Jahren hatte er in der US-Marine im Südpazifik und in Europa gedient. Seine Schweizer Ehefrau Birgitta Sequoyah vermutete, der Prozess sei politisch motiviert, weil sich ihr Mann als Aktivist für die Rechte der indigenen Bevölkerung Nordamerikas eingesetzt hatte.
Nach dem Urteil brachte sie den Fall an die Öffentlichkeit – auch das Magazin von Amnesty International Schweiz berichtete darüber. Amnesty International bezeichnete den Prozess damals als «willkürlich, diskriminierend und ungerecht ». Fast 29 Jahre später sitzt Sequoyah immer noch in der Todeszelle des kalifornischen Staatsgefängnisses San Quentin und wartet auf seine Berufungsverhandlung. Ob er die ihm vorgeworfenen Verbrechen verübt hat, ist umstritten. «Ich kann nicht beweisen, dass er unschuldig ist», sagt Claudio Marinucci. Unbestritten ist jedoch, dass der Angeklagte seinen Prozess verlor, weil er sich als juristischer Laie selbst vor Gericht vertrat. Es gelang ihm nicht, seine Behauptungen zu untermauern, wonach der Prozess gegen ihn ein politisches Manöver sei. Die Staatsanwaltschaft ihrerseits hatte weder forensische Beweise noch ein Motiv, stützte sich aber auf gestohlenes Eigentum, das in Sequoyahs Auto gefunden worden war, und auf fragwürdige Zeugenaussagen.
Global vernetzt
Nachdem Claudio Marinucci, seit 1979 aktives Mitglied von Amnesty International, auf den Fall aufmerksam geworden war, traf er sich mit Birgitta Sequoyah. Er gründete gemeinsam mit weiteren Freiwilligen die Organisation fos*ters (friends of sequoyah * team research switzerland), um die gesetzlichen Rechte Sequoyahs zu schützen. fos*ters konnte eine Zusammenarbeit mit humanitären Institutionen etablieren und Entscheidungsträger davon überzeugen, den Fall kritisch zu untersuchen. Sogar der damalige Bundesrat Flavio Cotti empfing fos*ters zwei Mal. Daneben sammelte die Organisation Spenden und veranstaltete Benefizkonzerte.
Dann aber ging es nicht mehr richtig vorwärts, und Claudio Marinucci war schon fast bereit, die Sache abzuschliessen. In den Ferien auf Elba traf er jedoch zufällig einen britischen Anwalt, der den Kontakt zu einer weltweit renommierten Menschenrechtsorganisation herstellte, zum Bar Human Rights Committee (BHRC). Später kam auch die kalifornische Organisation Human Rights Advocates (HRA) ins Spiel. Philip Sapsford von BHRC erwies sich als Schlüsselfigur, um die Anliegen von fos*ters zu unterstützen. Nachdem Marinuccis Ferienbekanntschaft den Kontakt zu ihm hergestellt hatte, war Sapsford jahrelang der einzige Anwalt, mit dem Sequoyah in Kontakt stand. Daneben arbeitete fos*ters auch mit dem Office of the State Public Defender zusammen, einer staatlichen Institution, die Angeklagte in Berufungsverfahren gegen die Todesstrafe unentgeltlich vertritt. Sie legte im November 2012 Berufung beim zuständigen Gericht in Kalifornien ein. Eine Entscheidung wird voraussichtlich nicht vor 2023 fallen. Sequoyah trug selbst in keiner Weise zu den Verzögerungen bei. Das Gericht hat die Akten nachlässig geführt, es gab Wechsel unter seinen Pflichtverteidigern, und die Stadt San Diego hat bereits zugegeben, fahrlässig gehandelt zu haben, weil wesentliche Prozessunterlagen verschwunden sind.
Das «Todeszellen-Phänomen»
Die verzögerte Hinrichtung, die jahrelange Bedrohung durch das Todesurteil und die Bedingungen im Todestrakt haben psychologische und körperliche Auswirkungen auf zum Tod Verurteilte. Dieses «Death Row Phenomenon» hat in den USA zu rechtlichen Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmässigkeit der Todesstrafe geführt: Denn eine Hinrichtung nach anhaltender Verzögerung unter schweren Haftbedingungen stellt nach Ansicht verschiedener Menschenrechtsorganisationen eine grausame und unmenschliche Bestrafung dar.
Im Lauf der Jahre haben sich Sequoyahs Gesundheitszustand und seine psychische Verfassung verschlechtert. Er hat zunehmend Wahnvorstellungen und äussert starkes Misstrauen auch gegenüber seinen engsten UnterstützerInnen. Zuletzt gab es jedoch Anzeichen für eine Besserung. «Ich habe ihn im Oktober 2019 zum vierzehnten Mal besucht», erzählt Claudio Marinucci. Jedem Besuch gehen viele Formalitäten voraus, und es ist keine leichte Sache, in San Quentin einem zum Tod Verurteilten gegenüberzutreten. «Beim ersten Mal bin ich fast ohnmächtig geworden. Ich traf Sequoyah in einem grossen Raum, wo sich viele Gefangene befanden. Bei meinem letzten Besuch wirkte er entspannter. Ich glaube, er hat zu einer Art Frieden mit seiner Situation gefunden. » Wann Marinucci Sequoyah das nächste Mal besuchen kann, ist wegen der Corona-Pandemie noch unklar. Bis Redaktionsschluss sind 30 Häftlinge und Wärter nach einer Infektion mit dem Coronavirus gestorben. Auch Sequoyah wurde positiv getestet und hatte leichte Symptome.
Ein Meilenstein
Der britische Anwalt Philip Sapsford stellte den «Fall Sequoyah» Connie de la Vega vor, einer Professorin für internationales Recht an der Universität von San Francisco. Zwei Entscheidungen des höchsten amerikanischen Gerichtshofs sind auf ihre Arbeit zurückzuführen: die Abschaffung der Todesstrafe für jugendliche StraftäterInnen und die Abschaffung der lebenslangen Strafe ohne Bewährung für jugendliche StraftäterInnen nach Tötungsdelikten. Im Februar 2007 hatte Professorin de la Vega den Fall Sequoyahs vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission (IACHR) gebracht. 2020 befasste sich die Kommission abschliessend damit und entschied zugunsten des Verurteilten.
Sie befand nicht nur, dass das Recht auf ein Gerichtsverfahren ohne Verzug verletzt worden sei, sondern kam auch zu dem Schluss, dass die USA Sequoyahs Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, sein Recht auf ein faires Verfahren, sein Recht auf Berufung, sein Recht auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung sowie sein Recht auf ein ordnungsgemässes Verfahren verletzt haben. Die Kommission empfahl den USA, Sequoyahs Todesurteil in eine Haftstrafe umzuwandeln und ein generelles Hinrichtungsmoratorium zu verabschieden. Die Entscheidung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission stellt einen Meilenstein dar, was die Anerkennung des «Death Row Phenomenon» als unmenschliche und unwürdige Behandlung betrifft. Dieser Entscheid bedeutet nicht nur Hoffnung für Sequoyah, sondern auch für viele andere zum Tod Verurteilte in den USA.
Hartnäckig bleiben
30 Jahre sind eine lange Zeit für ein freiwilliges Engagement. Wie motiviert sich Marinucci seit 1992 für seinen hartnäckigen Einsatz? «Ich bin Wissenschafter – Wissenschafter bringen Sachen gerne zu Ende», sagt er. Im Lauf der Jahre haben sich in Sequoyahs Fall 35 000 Seiten an Akten angesammelt. Claudio Marinucci kämpft weiter, damit der Gefangene eine kompetente Unterstützung für ein faires Berufungsverfahren bekommt. Er hält weiterhin die Fäden zusammen zwischen all den Organisationen, die sich für Sequoyah einsetzen. Die IACHR-Entscheidung gibt dem zweifachen Vater und Grossvater neuen Auftrieb. Er möchte auch jüngeren Aktivisten und Aktivistinnen Mut machen: «Meine Geschichte zeigt doch, dass es sich lohnt, nicht vorschnell aufzugeben.»