© Eleni-Kougionis
© Eleni-Kougionis

MAGAZIN AMNESTY Rassismus Hört uns zu

Protokolliert von Emilie Mathys und Carole Scheidegger. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von März 2021.
Vier engagierte Menschen schildern ihre Sicht auf die Rassismusdebatte in der Schweiz und sagen, was sie sich von der Gesellschaft wünschen.

«Nutzt eure Privilegien, um uns eine Stimme zu geben»

Licia Chery Licia Chery. © Aline Bovard Rudaz

«Heute ist es in Genf selten, dass jemand an der Schule die einzige nicht-weisse Person ist. Als ich so alt war wie mein Sohn heute, war das aber noch der Fall.

Rassismus bedeutet, auf den ersten Blick gehasst zu werden, ohne dass dich das Gegenüber kennt. In meinem Buch «Tichéri a les cheveux crépus» («Tichéri hat krauses Haar») geht es um diese kleinen Angriffe, die in ihrer Summe im Alltag so schwer wiegen. Das Buch richtet sich an Eltern und Kinder. Letztere verstehen Dinge sehr schnell, wenn man sie ihnen erklärt – im Gegensatz zu manchen Erwachsenen.

Bewusstsein entsteht durch Bildung und Repräsentation: Im Sommer 2020 habe ich als erste Schwarze Moderatorin beim Westschweizer Fernsehsender RTS angefangen. Das hätte ich mir als Kind nie vorstellen können. Viele Kommentare auf meiner Facebook- Seite sind nicht eindeutig rassistisch, es wurde mir aber vorgeworfen, «zu laut zu lachen», zu laut zu sein. Sie dürfen nicht vergessen, dass für manche Menschen allein meine Hautfarbe eine Provokation ist. Glücklicherweise erhalte ich auch viele positive Nachrichten, darunter von Müttern, die mir sagen, dass es ihre Kinder dank mir wagen, Träume zu haben.

In der Schweiz ist es immer noch schwierig, über Rassismus zu reden. Wir hören regelmässig, dass «wir hier ja nicht in den USA seien». Es fällt den Menschen schwer, die Themen Herkunft und kollektives Denken, das von Generation zu Generation weitergegeben wird, zu verstehen. «Aber Sie waren doch keine Sklavin», wurde mir schon gesagt. Diese Menschen sehen nicht, wie «Schwarz» überall auf der Welt wahrgenommen wird und welche Auswirkungen diese Wahrnehmung hat. Einmal erzählte ich einem Psychiater, was mein Vater mir sagte, als ich jünger war: «Du bist eine Frau und du bist Schwarz in einer Welt des weissen Mannes. Bei allem, was du tust, musst du doppelt so hart kämpfen.» Er antwortete: «Kein sehr netter Papa.»

Wenn ich sage, dass Rassismus existiert, konfrontiere ich weisse Menschen mit einer Realität, die sie nicht sehen wollen. Es geht um das Unbewusste: Auch wenn Sie keine rassistischen Absichten haben, können Ihre Worte rassistisch sein. Die Bewegung Black Lives Matter hat einige Tatsachen in den Vordergrund gerückt. Wie bei #MeToo wagen es nun manche Betroffene, sich zu äussern. Anderen wird das Ausmass des Problems bewusst. Und schliesslich gibt es diejenigen, die schimpfen, dass alles übertrieben sei und «man ja nichts mehr sagen darf».

Solange manche Weisse verkennen, dass der Rassismus nicht von uns, sondern von ihnen ausgeht, wird sich nichts ändern. Unternehmen, Institutionen, Regierungen betonen regelmässig, dass wir Rassismus bekämpfen müssen. Schön, aber dann stellt Leute ein, die die Vielfalt repräsentieren! Wir wollen Institutionen mit Frauen, Transmenschen, People of Color, Menschen mit Behinderung – kurz, ein Abbild der Gesellschaft. Jenen, die sich mit uns verbünden wollen, gebe ich folgenden Rat: Fragt uns, was ihr tun könnt. Äussert nicht immer eure Meinung, hört einfach zu! Und statt zu bestreiten, dass es weisse Privilegien gibt, nutzt ihr sie besser, um unserer Stimme Gehör zu verschaffen.»

«Das Problem anerkennen»

Denis Sorie Denis Sorie © Eleni Kougionis «Während der Black-Lives-Matter-Demonstrationen habe ich selbst viel gelernt und mir Gedanken gemacht über Vorfälle in der Vergangenheit. Zum Beispiel darüber, dass ich innerhalb von zwei Wochen zwei Mal von der Polizei kontrolliert wurde.

Ich bin ziemlich weiss sozialisiert worden, ich bin in Basel mit einer weissen Mutter aufgewachsen. Immer wieder werde ich auf Hochdeutsch oder sogar Englisch angesprochen. Verletzend finde ich, wenn die Gesprächspartner*innen auf Hochdeutsch beziehungsweise Englisch weiterfahren, selbst wenn ich auf Schweizerdeutsch antworte. Ich weiss, die meisten meinen es ja nicht böse. Aber wenn das dauernd geschieht, nervt es trotzdem. Ähnlich ist es mit der Frage: «Woher kommst du?» Weil ich diese Frage so oft höre, gibt sie mir mittlerweile das Gefühl, dass ich eben nicht ganz dazugehöre in der Schweiz. Dabei spielt der Kontext eine grosse Rolle. Wenn «Woher kommst du?» die zweite Frage ist bei einer neuen Begegnung und die Antwort «Aus Basel» nicht ausreicht, dann finde ich es verletzend. Fragt mich eine gute Freundin, ist es natürlich anders.

Mir ist Sprache generell sehr wichtig, und ich glaube, dass ein sorgfältiger Umgang mit der Sprache etwas verändern kann. Daneben braucht es politische und gesellschaftliche Veränderungen. Wichtig finde ich Aufklärungsarbeit in der Bildung. Ich setze mich bei Amnesty International und mit der Operation Libero für eine liberale und gerechte Gesellschaft ein, für Menschenrechte, Freiheit, Vielfalt. Das schliesst für mich ein, dass alle Menschen gleich an Würde und Rechten sind. Ich habe mich aber bewusst dagegen entschieden, mich ausschliesslich gegen Rassismus zu engagieren, denn ich möchte, dass People of Color auch bei Themen repräsentiert sind, die nichts mit der Hautfarbe zu tun haben.

Manche werfen Black Lives Matter vor, dass die Bewegung ja gerade die Hautfarbe betone; so werde die Gesellschaft weiter gespalten. Meine Meinung dazu ist: Um die Probleme mit dem Rassismus aufzuzeigen, ist es notwendig, auf die Hautfarbe hinzuweisen. Idealerweise würde Hautfarbe oder Herkunft keine Rolle spielen, doch derzeit spielen sie noch eine Rolle. Ein Beispiel: Seit 2014 habe ich neben dem Schweizer Pass auch jenen von Sierra Leone, wo mein Vater herkommt. Bei Bewerbungen überlege ich aber sehr genau, ob ich dieses Bürger*innenrecht erwähnen soll oder ob es ein Nachteil sein könnte. Und ich glaube, ich bin bei weitem nicht der Einzige, der sich solche Sorgen macht.

Von meinen weissen Mitmenschen wünsche ich mir, dass sie zuhören und versuchen, das Problem anzuerkennen, auch wenn sie es nicht auf den ersten Blick sehen. Dass manche sich fragen, ob es überhaupt Rassismus gebe in der Schweiz, ist für mich ziemlich unverständlich. Wertschätzung für die Erfahrung von anderen wäre ein erster Schritt gegen Rassismus.»

«Mit der Vergangenheit auseinandersetzen»

Noémi Michel Noémi Michel. © Aline Bovard Rudaz «Es war im Herbst 2012 auf dem Weg zu meinem Büro an der Universität Genf, als ich diesen Plakaten begegnete. Gerade hatte ich meine Dissertation darüber beendet, wie Worte und Bilder im öffentlichen Raum Rassismus reproduzieren. Die Plakate zeigten die SVP-Politiker Oskar Freysinger und Christoph Blocher, die im Rahmen einer Kampagne von Amnesty Schweiz gegen die Verschärfung des Asylrechts in Migranten «verwandelt» worden waren.

Ich stimme mit den politischen Zielen von Amnesty überein, aber ich war schockiert, dass eine rassistische Tradition, das Blackfacing, in dieser Kampagne eingesetzt wurde. Schockiert darüber, dass provokatives Marketing betrieben wurde auf Kosten derjenigen, deren äusserliche Merkmale instrumentalisiert werden. Amnesty tat sich schwer damit, die Kritik anzunehmen, die ich zusammen mit einer Gruppe von Forscher*innen an die Organisation gerichtet hatte. In einem kürzlich erschienenen Artikel bin ich auf dieses Thema zurückgekommen: Für progressive Organisationen und Akteur*innen ist es schwierig zuzugeben, dass sie selbst auch Rassismus produzieren können.

Antirassismus kann sich nicht mit einfachen Aussagen wie «Rassismus ist falsch» oder der Verabschiedung einer Charta begnügen. Der humanitäre Sektor reproduziert weiterhin eine visuelle Kultur, die eine Grenze zwischen dem «Wir» und «den anderen» schafft, denen man «helfen» will. Organisationen wie Amnesty würde es gut anstehen, Rassismus zuzugeben, sich selbst zu hinterfragen und sich dem Unbehagen zu stellen.

Rassismus zu bekämpfen bedeutet, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Schweiz ist immer noch stark von einer «kolonialen Amnesie» betroffen. Wir feiern Henry Dunant, der nicht nur das Rote Kreuz gegründet hat, sondern auch am Ursprung einer kolonialen Gesellschaft stand. Wir vergessen, dass es hierzulande bis Mitte des 20. Jahrhunderts «Menschenzoos» gab. Diese Vergangenheit klingt bis heute nach, sie ist die Quelle des heutigen Rassismus.

Ich wuchs in einer politisierten Familie auf, die mir eine Kultur der Befreiung vermittelte. Vor allem durch meinen Vater wurden mir antikoloniale haitianische Geschichten weitergegeben. Der Kampf gegen Sklaverei und Kolonialismus ist aus meiner Sicht wesentlich für das Verständnis von Menschenrechten. Schon im Gymnasium hat mich beschäftigt, dass wir nur französische Literatur lasen, nicht aber frankophone Literatur. In dieser engen, eurozentrischen Sichtweise konnte ich mich nicht wiederfinden. Sie entsprach nicht meinem Bild der Welt, wie ich es von meinen eingewanderten Eltern und meinen Freund*innen im multikulturellen Genf geerbt hatte.

Ich habe mich im letzten Sommer aktiv an der Wiedererstarkung der Black-Lives-Matter- Bewegung beteiligt. Meine Brüder, Cousins und Cousinen in Europa und in den Vereinigten Staaten leben täglich mit Racial Profiling. Das Engagement für Antirassismus ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Mit der Bewegung für Schwarzes Leben (alle Schwarzen Leben: queer, trans eingeschlossen), die hier seit einigen Jahren stattfindet, finde ich eine Verbindung zur Schönheit des Schwarzen Befreiungskampfes wieder. Die Bewegung erinnert mich daran, dass wir lebendig sind.» 

«Es braucht eine öffentliche und politische Debatte»

Rispa Stephen Rispa Stephen © Sabine Rock «Immer wieder höre ich, dass es in der Schweiz keinen Rassismus gebe, oder er wird einzig mit Rechtsextremismus in Verbindung gebracht. Sage ich, dass wir in einem rassistischen und diskriminierenden System leben und davon geprägt sind, dann wird rasch empfindlich darauf reagiert. Denn wer möchte schon gern als Rassist*in bezeichnet werden? Aber darum geht es ja nicht, wir sollten von diesem Opfer-Täter*innen-Schema wegkommen. Die Schweiz muss endlich einen offenen Diskurs über strukturellen und institutionellen Rassismus, über Diskriminierung und über die Rolle des Landes in der Vergangenheit führen. Die Stichwörter sind Kolonialismus, Sklavenhandel, Missionierung. Ich bin überzeugt, dass dies zur Dekonstruktion von Rassismus und Diskriminierung in der Schweiz beitragen würde.

Rassismus ist oft sehr subtil, was es umso schwieriger macht, darüber zu reden und ihn anzuprangern. Im Zürcher Ausgeh- Quartier Kreis 4 wurde ich auch schon gefragt, was ich denn koste. In der Öffentlichkeit wurde ich mal mit «huere Schoggichopf» und «Geh doch wieder dorthin, wo du herkommst» beschimpft. Als ich die Person zur Rede stellte, kassierte ich einen Ellbogenhieb; niemand von den Umstehenden reagierte. Als Kind wurde ich mit dem M-Wort beschimpft. Ich kann nicht nachvollziehen, wieso manche Leute immer noch darauf bestehen, diese Süssigkeit so zu nennen. Bei vielen People of Color ruft dieses Wort nur verletzende Erinnerungen hervor.

Wir alle haben Privilegien, die einen mehr als die anderen. Der Unterschied bei der weissen Mehrheitsgesellschaft ist aber: Sie muss sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen, sie darf.
Diese Privilegien bringen mit sich, dass man sich keine Sorgen macht, wenn ein Polizeiauto vorbeifährt, oder dass man bei der Wohnungs- und Arbeitssuche nicht wegen des Aussehens diskriminiert wird. Black Lives Matter hat auf manches ein Licht geworfen, wie auch auf die vielen Leute, die sich schon davor mit verschiedenen Projekten gegen Rassismus eingesetzt haben.

Mit zwei anderen Frauen habe ich 2019 das Black Film Festival Zurich gegründet. Wir wollen damit Schwarzen Filmemacher*innen eine Plattform geben und den Zugang zum Black Cinema ermöglichen. Nach wie vor spielen People of Color Rollen, die ein stereotypes, kolonialistisches oder diskriminierendes Bild zeigen. Das schafft keinen Wert für People of Color, sondern zementiert problematische Bilder weiter. Wir möchten ein anderes Filmschaffen mit differenzierteren Rollen zeigen. 2020 musste das Festival wegen Corona leider ausfallen. Dieses Jahr kann es vom 28. bis 30. Mai hoffentlich wieder stattfinden.
Von der Mehrheitsgesellschaft wünsche ich mir, dass sie sich stärker bemüht, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, und versucht, unsere Perspektive einzunehmen. Gesellschaftlich und politisch wünsche ich mir einen breiteren Diskurs zu strukturellem und institutionellem Rassismus sowie zu Diskriminierung, aber auch zur Rolle der Schweiz in der Vergangenheit. Die Schweiz ist und war nie neutral!»