Rassismus beginnt mit einem banalen und alltäglichen Phänomen: Bei der Begegnung mit anderen Menschen ordnen wir diese umgehend einer Kategorie zu. Denn ohne Kategorisierung könnte unser Gehirn gar nicht all die Informationen, die es aus der Umwelt erhält, verarbeiten. Bei der «sozialen Kategorisierung», also der Kategorisierung von Menschen, geht es darum, wie wir Menschen wahrnehmen, die wir in die gleiche oder in verschiedene Kategorien einteilen. Also ob wir weniger Unterschiede zwischen Menschen wahrnehmen, als tatsächlich bestehen, wenn sie in der gleichen Kategorie sind. Und ob wir bei Menschen mehr Unterschiede sehen, die in verschiedene Kategorien eingeteilt wurden.
Voreingenommenheit und Bevorzugung
Damit kommen wir zu den Stereotypen. Denn diese sind eine Erweiterung dieser sozialen Kategorisierungen, indem wir Persönlichkeitsmerkmale hinzufügen. Diese Stereotype haben selten eine Grundlage in der Realität, sind grösstenteils übertrieben oder sogar falsch, sozial konstruiert und wurden während unserer Sozialisation erlernt. Ausserdem ist die Verwendung von Stereotypen ein Zeichen von Denkfaulheit (sie nimmt zu, wenn wir zum Beispiel wenig Zeit haben, jemanden zu beurteilen). Stereotype sind auch sehr schwer zu korrigieren, da Gegenbeispiele oft als Ausnahmen interpretiert werden, selbst wenn sie zahlreich sind. Stereotype haben ausserdem die besonders perfide Tendenz, sich als selbsterfüllende Prophezeiung schon dadurch scheinbar zu bewahrheiten, dass jemand daran glaubt.
Die Verwendung von Stereotypen ist ein Zeichen von Denkfaulheit (sie nimmt zu, wenn wir zum Beispiel wenig Zeit haben, jemanden zu beurteilen).
Zahlreiche sozialpsychologische Studien haben ausserdem Folgendes gezeigt: Wenn Menschen, die einander nicht kennen, in zwei Gruppen eingeteilt werden, neigen die meisten dazu, die Mitglieder der eigenen Gruppe zu bevorzugen, auch wenn keine Interaktion stattfand, indem sie ihnen beispielsweise etwas mehr Punkte zuteilen. Auch neigen wir dazu, mehr negative Stereotype über die «andere Gruppe» (Exogruppe) zu haben als über unsere «eigene» (Endogruppe).
Die Gruppen mit einer dominanten Position in der sozialen Hierarchie diskriminieren zudem diejenigen Gruppen stärker, die in der sozialen Hierarchie weiter unten stehen. Diese können zudem ihre Diskriminierung verinnerlichen, also selbst an ihre vermeintliche Minderwertigkeit zu glauben beginnen. Diese Verzerrung kann auf allen möglichen Ebenen beobachtet werden: bei Rivalitäten zwischen Stadtquartieren, Nachbardörfern, Ländern und so weiter – sichtbar beispielsweise bei Fussball-Fans.
Traditioneller Rassismus
Was hat dies nun alles mit Rassismus zu tun? Nun, in der Sozialpsychologie definieren wir «traditionellen» Rassismus im Allgemeinen als die Ablehnung der als bedrohlich wahrgenommenen «fremden Gruppe» (Exogruppe) – was mit der genetischen Minderwertigkeit dieser Gruppen begründet wird. Dabei wurden zwei miteinander zusammenhängende Unterdimensionen identifiziert: Die eine Dimension ist «Bedrohung und Ablehnung» – zum Beispiel die Behauptung, dass «X zu einer Gruppe gehört, die weniger begabt ist als Y». Die andere ist «Intimität »: Damit gemeint ist die Weigerung, im Privatleben, in der Familie, bei der Arbeit und so weiter mit diesen Menschen Kontakt zu haben. Diese Definition von Rassismus verweist auf die oben beschriebenen Prozesse der sozialen Kategorisierung, Stereotypisierung und Bevorzugung, beinhaltet aber zusätzlich die Idee des Essenzialismus: Es wird den Menschen, die wir einer Gruppe zugeteilt haben, ausserdem eine zugrundeliegende, gemeinsame und unveränderliche Kerneigenschaft zugeschreiben. So zum Beispiel «Blut» oder «Gene». Erfreulicherweise lässt sich seit Ende des letzten Jahrhunderts in Meinungsumfragen ein Rückgang der Zustimmung zu diesem traditionellen Rassismus beobachten.
Moderner Rassismus
Sozialpsycholog*innen haben sich jedoch gefragt, ob dies auf einen tatsächlichen Rückgang des Rassismus zurückzuführen ist oder zumindest teilweise auf die Einführung von Antirassismusgesetzen in den 1960er-Jahren in den USA und in einigen europäischen Ländern (in der Schweiz in den 1990er-Jahren). In dem Zusammenhang stellten sie neue Formen des sogenannten «modernen » Rassismus fest. Diesen Formen ist gemeinsam, dass sie schwieriger zu erkennen, indirekter und subtiler sind. Aber es ist erwiesen, dass es sich dabei tatsächlich um Diskriminierung handelt.
Symbolischer Rassismus bezieht sich auf die Verschleierung von Rassismus gegenüber anderen: Dazu gehört die berühmte Phrase «Ich bin kein Rassist, aber ...» – gefolgt beispielsweise von der Behauptung, dass die gegenwärtigen Forderungen der Schwarzen in den USA unberechtigt seien.
Ambivalenz-Verstärkung: Sie beschreibt das gleichzeitige Vorhandensein von positiven und negativen Gefühlen gegenüber einer Person, die je nach Kontext aktiviert werden: In einem Wettbewerbskontext werden zum Beispiel negative rassistische Gefühle mobilisiert, nicht aber in einem Kontext gegenseitiger humanitärer Hilfe.
Aversiver Rassismus ist Verschleierung des Rassismus selber, eine Form des unbewussten Rassismus. Er bewirkt, dass die negativen Einstellungen nicht bewusst sind und auf einen anderen Faktor zurückgeführt werden (zum Beispiel wenn bei einer Anstellung eine offensichtliche Diskriminierung mit einem Kompetenzmangel begründet wird, aber eigentlich rassistische Gefühle den Ausschlag gaben).
Regressiver Rassismus postuliert, dass Gleichstellungsvorstellungen in Stresssituationen ins Wanken geraten, weil die einzelnen Personen in diskriminierende Verhaltensweisen zurückfallen.
Subtiler Rassismus äussert sich durch eine Übertreibung der kulturellen Unterschiede zwischen der Gruppe, der man angehört, und den diskriminierten ethnischen Minderheiten, sowie indem die traditionellen Werte des eigenen Landes gegenüber ausländischen Bräuchen verteidigt werden. Positive Emotionen werden nur der eigenen Gruppe zugeschrieben («Ich hasse die Xs nicht mehr als die Ys, aber ich mag die Ys mehr als die Xs»).
Und schliesslich wurde verdeckter Rassismus bei Personen beobachtet, die in Umfragen die Existenz von Rassismus in ihrem Land grundsätzlich leugneten.
Die psychologischen und sozialen Grundlagen des Rassismus sind tief in unseren Denk- und Verhaltensweisen verankert. Indem wir von ihnen wissen, können wir sie bekämpfen.
Fazit
Aus diesem Überblick über die Formen von Rassismus und seine sozialpsychologischen Vorläufer wird deutlich, wie die psychologischen und sozialen Grundlagen des Rassismus tief in unseren «normalen» Denk- und Verhaltensweisen verankert sind. Alle diese Mechanismen – die soziale Kategorisierung, die Stereotypisierung und die Bevorzugung – sind Bestandteile des Rassismus, die aus dem normalen Funktionieren unserer Psyche und dem Leben in der Gesellschaft entstehen. Meine Schlussfolgerung ist jedoch weder fatalistisch noch pessimistisch: Obwohl diese Prozesse nur langsam und schwer zu ändern sind, zeigt die Forschung auch, dass wir ihnen durch Bildung und bewusste Reflexion entgegenwirken können. Indem wir von ihnen wissen, können wir sie bewusst hemmen, sie in unserem täglichen Denken bekämpfen und unsere Mitmenschen dazu ermutigen, das Gleiche zu tun.