Protest gegen Polizeigewalt: Studierende demonstrieren nach der Ermordung eines Mitstudenten. Nairobi, März 2018. © Amnesty International
Protest gegen Polizeigewalt: Studierende demonstrieren nach der Ermordung eines Mitstudenten. Nairobi, März 2018. © Amnesty International

MAGAZIN AMNESTY Kenia Verdächtigt, verschwunden, verscharrt

Von Bettina Rühl. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von März 2021.
In Kenia gehen Sicherheitskräfte oft brutal gegen die Bevölkerung vor. Die Seite «Missing Voices», an der Amnesty International beteiligt ist, dokumentiert die Opfer.

Kibundani ist ein Dorf an der kenianischen Küste. Beim Anblick des Besuchs lachen die Bewohner*innen erleichtert: Es sind bloss eine Weisse und Kashi Jermaine von der kenianischen Menschenrechtsorganisation HUDA, den sie gut kennen. «Als wir das Auto hörten, sind wir sofort in Panik geraten», erklärt man uns, «wir wollten schon fliehen. » Mit einem Auto kommt sonst eigentlich nur die Polizei in Dörfer wie Kibundani, und der Gedanke daran löst hier Todesangst aus. Ende Mai 2020 erschienen bewaffnete Beamte in Kibundani. Als sie wieder abfuhren, waren drei Menschen tot, darunter zwei Kinder im Alter von vier und sechs Jahren. Ausserdem ein acht Monate alter Fötus, den eine Polizeikugel im Bauch seiner Mutter getroffen hatte.

Glaubt man der Darstellung der Polizei, dann suchte sie einen Terrorverdächtigen und ein Gewehr. Der «Verdächtige » habe eine Handgranate auf die Einsatzkräfte geworfen und seine Kinder als menschliche Schutzschilde missbraucht, deshalb seien sie versehentlich zusammen mit dem Gesuchten getötet worden, erklärten die Einsatzkräfte im Nachhinein. Ganz anders beschreibt Mohamed Ramadan das, was in der Nacht auf den 30. Mai 2020 in Kibundani geschah. Er ist der älteste Sohn des Opfers: Die Polizei habe ihre Haustür mit einer Handgranate gesprengt und im Haus wild herumgeschossen. Sein Vater sei zu der Zeit schon draussen gewesen. Dann habe die Polizei auch ihn festgenommen und aus dem Haus gebracht. Dabei kam Mohamed an seinem Vater vorbei, der auf dem Bauch am Boden lag, im Griff der Polizisten. Der Sohn musste sich auf dem Dorfplatz hinlegen, neben seinen Onkel. «Wir lagen da vielleicht fünf Minuten, dann hörten wir drei Gewehrschüsse, vielleicht auch vier. Ich wusste nicht, was passiert war, ob jemand erschossen worden war», erzählt der 22-Jährige.

Kashi Jermaine hat eine genauere Vorstellung von dem, was in jener Nacht geschah. Weil seine Menschenrechtsorganisation im Namen der Familie Aufklärung verlangte, durfte er bei der Autopsie der Leiche dabei sein und bekam anschliessend den Autopsiebericht. «Sie haben Mohameds Vater exekutiert. Sie haben ihm befohlen, sich hinzulegen, und ihm in den Kopf geschossen, er hatte drei Kugeln im Kopf.»

Junge Männer im Visier

Auf der Seite «Missing Voices» werden die Opfer von Polizeigewalt gezählt. Allein 2020 seien mindestens 144 Menschen von der Polizei getötet oder entführt worden und nie wieder aufgetaucht, heisst es dort. Betrieben wird die Seite von kenianischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International Kenia. Sie versuchen gemeinsam, die Fälle von Polizeigewalt zu dokumentieren und darauf zu drängen, dass die Justiz ermittelt und die Täter*innen bestraft werden. Die Opfer sind häufig junge Männer, die in den Slums der Hauptstadt Nairobi leben, dort führen die Sicherheitskräfte einen oft gesetzlosen «Krieg gegen Kriminalität». Oder sie sterben im Namen des kenianischen «Kriegs gegen den Terror». Den führen die kenianischen Sicherheitskräfte vor allem in den Gebieten Kenias, in denen überwiegend Muslim*innen leben, also an der Küste und im Nordosten des Landes. Insgesamt sind rund 10 Prozent der Bevölkerung muslimischen Glaubens, mehr als 80 Prozent der Kenianer*innen bekennen sich zum christlichen Glauben.

«Es ist insgesamt schwer, an verlässliche Zahlen zu kommen», betont Ramadhan Rajab von Amnesty International Kenia. «Aber in Bezug auf die muslimischen Opfer ist es besonders schwierig.» Denn die Mitgliedsorganisationen von «Missing Voices» erfahren von Menschenrechtsverletzungen nur dank der Unterstützung der Bevölkerung, anderer Organisationen oder von Regierungsangehörigen. Der Nordosten Kenias, der an Somalia grenzt, ist jedoch dünn besiedelt und wurde von der Regierung seit der Gründung des Landes strukturell vernachlässigt – es gibt hier weniger Behörden oder Organisationen, mit denen «Missing Voices» kooperieren könnte. «Ausserdem haben dort viele Menschen Angst vor der Polizei und der Regierung», sagt Rajab. «Deshalb melden sie es lieber nicht, wenn Angehörige verschwinden. Sie haben Angst, selbst zu Opfern zu werden. » So gebe es kaum Daten, erst recht keine zuverlässigen. Aber Eindrücke gewinnt Rajab durchaus, wenn er im Nordosten unterwegs ist, in Orten wie Mandera oder Wajir. «Wenn du mit fünf Leuten redest, erzählen dir zwei von ihnen, dass einer ihrer Angehörigen verschwunden sei.» Wer die Tat begangen habe, sei in aller Regel unklar. Denn ausser den kenianischen Sicherheitskräften kommen auch Mitglieder der radikal-islamischen Shabaab-Miliz infrage. Viele Muslim*innen fühlen sich von Mitgliedern der Terrorgruppe ebenso bedroht wie von der kenianischen Polizei. Auch andere Gründe für ein Verbrechen sind nicht ausgeschlossen, beispielsweise finanzielle oder familiäre Streitigkeiten.

Sie kommen nachts

Ramadhan Rajab ist nach jeder Reise in den Nordosten erschüttert davon, wie viele Muslim*innen von verschwundenen Verwandten berichten. Wie Rajab betont auch Zaina Kombo, dass die Zahl der tatsächlichen Fälle vermutlich weit über den gut dokumentierten liegt, die auf der Seite «Missing Voices» aufgenommen werden. Kombo arbeitet für die muslimische Menschenrechtsorganisation HAKI Africa. «In unserem Büro in Mombasa wird uns jede Woche von zwei oder drei Fällen berichtet», sagt sie. Die Hafenstadt Mombasa ist Kenias zweitgrösste Metropole, die Bevölkerung überwiegend muslimisch. «Etwa zehn Prozent der Verschwundenen tauchen bald danach wieder auf», sagt Kombo. Von einigen werde kurz darauf der Leichnam gefunden, das Schicksal der meisten bleibe offen.

«Oft heisst es, die Menschen seien von der Polizei entführt worden. Aber meist ist das schwer zu belegen. In der Regel kommen die Täter in ziviler Kleidung und nicht tagsüber, sondern in der Nacht.» Selbst wenn es Menschen gibt, die den Vorfall gesehen haben, können sie kaum etwas mit Gewissheit sagen. Und denkbar ist meist auch, dass Mitglieder der Shabaab-Miliz hinter der Entführung stecken, die Aussagen vor Gericht verhindern oder sich für eine mutmassliche Kooperation mit den Sicherheitskräften rächen wollen.

Sofern es Hinweise darauf gibt, dass die Polizei involviert ist, melden die Mitgliedsorganisationen von «Missing Voices» den Fall der kenianischen Polizeiaufsichtsbehörde IPOA. Vieles bleibt unaufgeklärt und verläuft im Sand, so wie die Ermittlungen zu den Toten im Dorf Kibundani. Einen kleinen Fortschritt gibt es trotzdem: Im vergangenen Jahr mussten sich einige Polizisten vor Gericht verantworten. Ein paar von ihnen wurden verurteilt, andere Verfahren laufen noch. Die Mitglieder von «Missing Voices» sind überzeugt, dass es auch diesen kleinen Sieg ohne den massiven Druck der Zivilgesellschaft nicht gegeben hätte.