Sinngemäss hiess das also, man solle nicht so ein Aufhebens davon machen und bloss keinen Lockdown mehr, denn der sei schlecht für die Wirtschaft.
Ich musste an meine Eltern denken. Sie fallen genau in diese Kategorie. Sie sind zu rund, sie sind über 65 und sie haben beide Vorerkrankungen. Seit sechs Jahren sind sie pensioniert. Sie haben beide 45 Jahre lang gearbeitet, mein Vater in den verschiedensten Fabriken, wo Dinge hergestellt werden, über die man nie nachdenkt, von denen man sich nie fragt: Wer hat das eigentlich gemacht? Zum Beispiel Überfüllventile für Öltanks oder Fertigravioli. Meine Mutter war Arztsekretärin, auch so ein Beruf, den man kaum wahrnimmt. Es ist einfach praktisch, dass Menschen diese Berufe ausüben und unser Leben angenehmer machen, ohne dass wir es merken. Meine Eltern haben ihre Steuern immer zeitig bezahlt. Sie haben sich in ihrer Gemeinde engagiert und haben nie Ärger gemacht. Sie geniessen es beide sehr, nach den vielen Jahren der Arbeit frei zu sein und nichts mehr zu müssen. Meine Mutter liest gerne. Mein Vater, der Italiener ist, kocht mit Leidenschaft, zum Beispiel selbst gemachte Gnocchi nach dem Rezept von meiner Nonna, oder Ravioli. Beide träumen davon, in den nächsten Jahren noch ein paar Reisen zu machen. Am liebsten nehmen sie teil an organisierten Carfahrten nach Italien, Norddeutschland oder auch mal nach Skandinavien. Sie sind grosszügig, gesellig und lustig. Mein Vater hat neulich gesagt, es stimme ihn traurig, dass sie durch Corona so viel Lebenszeit verlören. Wir Jungen hätten ja noch viel Zeit, aber in ihrem Alter würden die Tage immer kostbarer. Es sind keine grossen Ansprüche, die meine Eltern haben. Sie wünschen sich im Grunde einfach, noch eine Zeit lang zu leben.
Aber der Mensch, der den Tweet geschrieben hat, und die vielen anderen, die trotz Pandemie auf nichts verzichten wollen, nicht einmal für eine überschaubare Zeit – die finden, meine Eltern könnten ruhig ins Gras beissen. Für die Wirtschaft. Ich stelle mir vor, wie mein Vater für diese Person Gnocchi kocht und wie sie meinem Vater gegenübersitzt und ihm in die Augen schaut, von Mensch zu Mensch.