AMNESTY: Könnt ihr euch noch daran erinnern, wann ihr zum ersten Mal von Amnesty International gehört habt?
Elettra: Ja, Amnesty wurde einmal an einer Schülerversammlung in Lugano vorgestellt. Seit meinem zweiten Jahr im Gymnasium war ich dann aktiv bei Amnesty dabei.
Reto: Erstmals hörte ich von Amnesty 1977, als ich mit meiner Familie in Peru wohnte und als Lehrer unterrichtete. Dort erlebte ich, wie es in einer Diktatur zu- und hergeht. Es herrschte Ausnahmezustand, eine Militärregierung war an der Macht. Ich las in einer US-amerikanischen Zeitung, dass die Amnesty-Gruppe Peru verboten wurde, weil Amnesty offenbar ein Stachel im Fleisch der Regierung war. Zurück in der Schweiz habe ich mich dann sehr für die Aktivitäten von Amnesty interessiert und bin gleich der lokalen Gruppe St. Gallen beigetreten.
Seit wann seid ihr bei Amnesty aktiv, und in welcher Funktion?
Reto: Ich bin seit 36 Jahren dabei, zurzeit wieder als Leiter der Lokalgruppe St. Gallen. Die Gruppe hat rund zehn Aktivmitglieder.
Elettra Ich bin seit meinem sechzehnten Lebensjahr dabei. Seit fast zwei Jahren koordiniere ich die Amnesty-Gruppe an der Universität Genf. Die Gruppe hat zwischen 80 und 100 Mitglieder. Ich verlasse Genf am Ende dieses Semesters, aber ich bleibe Mitglied von Amnesty Schweiz.
Habt ihr Tipps, die ihr austauschen könntet, zum Beispiel eine Idee für eine Aktion?
Elettra: Im November 2019 organisierten wir einen Flashmob gegen die Todesstrafe. Den ganzen Vormittag über sass jemand in einem Käfig mit einem Sack über dem Kopf. Dann simulierten als Häftlinge verkleidete Studierende eine Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl. Damals hatte ich nicht das Gefühl, dass die Aktion viel Aufmerksamkeit bekam, aber ich wurde später mehrmals darauf angesprochen.
Reto: Wir führen andere Aktionen durch. Der grösste Erfolg war wohl ein klassisches Konzert mit einer lokalen Musikgrösse, das in der Presse und bei den Gönner*innen ein gutes Echo fand. Fruchtbarer Boden sind für uns auch Kirchgemeinden: Sie sind offen für Präsentationen von Amnesty. Ein oder zwei Mal pro Jahr führen wir eine Strassenaktion am städtischen Integrationstag und anlässlich des Briefmarathons in einem öffentlichen Lokal durch.
Hat euch Corona sehr in eurem Engagement behindert?
Elettra: Ja, eindeutig. Zu Beginn der Pandemie haben wir uns virtuell getroffen, aber mit der Zeit hatten die Leute genug davon. Wir verlieren Mitglieder, und es gibt Motivationsprobleme. Immerhin konnten wir uns treffen, um Videos zu drehen. Es ist auch schwieriger, neue Mitglieder zu finden.
Reto: Ich war mit den Gruppenmitgliedern per Telefon oder E-Mail in Kontakt, aber das ersetzt den persönlichen Austausch natürlich nicht. Es gibt so spannende Leute in unserer Gruppe: zum Beispiel eine schwedische Politologin, einen 82-jährigen ehemaligen Kaufmann, einen 40-jährigen Informatiker, eine Sozialpädagogin, einen ehemaligen kurdischen Flüchtling sowie eine Ärztin. Es ist ein weiteres Verdienst von Amnesty, dass ganz unterschiedliche Leute zusammenkommen.
Was motiviert euch für den Einsatz bei Amnesty?
Reto: In der Schweiz haben wir ein (über)geregeltes Leben, alles verläuft in ordentlichen Bahnen. Amnesty geht weltweit dorthin, wo das Leben nicht so geregelt ist, und setzt kleine Nadelstiche, die auch Riesen plagen können, von Russland bis China. Daneben gefällt mir auch die Internationalität, auf allen Kontinenten gibt es Amnesty-Gruppen. Unsere Gruppe hatte zum Beispiel einmal Verbindungen mit Amnesty in Ghana, weil jemand von uns dort geschäftlich zu tun hatte.
Elettra: Hinter meinem Engagement steht der Wunsch, in einer besseren Welt zu leben, sei es international oder national. Ich treffe mich gern mit Menschen, die diesen Willen teilen, die Menschenrechte zu verteidigen. Junge Menschen fragen sich oft, was für eine Welt sie erwartet. Ein Teil von Amnesty zu sein, gibt mir viel Hoffnung.
Was sagt ihr den Leuten, die zögern, sich mit Amnesty zu engagieren? Die denken, dass es nichts bewirken würde?
Elettra: Ich nenne oft den Briefmarathon als Beispiel. Indem wir Briefe schreiben, ermöglichen wir Verbesserungen. Ausserdem nützt es nicht nur anderen, sondern ist auch auf persönlicher Ebene lohnend. Ich habe bei Amnesty tolle Leute kennengelernt, das ist sehr motivierend. Dieses Engagement gibt mir generell viel Energie im Leben. Und wenn wir nichts tun, wird sich bestimmt nichts ändern!
Reto: Ich höre tatsächlich oft den Einwand: «Da kann man ja doch nichts machen, das nützt doch nichts.» Deshalb freue ich mich, Elettra, wenn auch junge Leute sagen: «Doch, man kann etwas tun.» Ich nehme jeweils die «Good News» aus dem Amnesty-Magazin mit an die Standaktionen und zeige den Menschen, welche Erfolge es gab. In St. Gallen und Umgebung haben wir ausserdem ein Netz von etwa 200 Leuten, die Briefe gegen Menschenrechtsverletzungen schreiben. Sie kommen nicht an unsere Sitzungen oder Veranstaltungen, aber sie versenden Briefe an Regierungen. Solche kleinen Aktionen können Grosses bewirken.
Welche Veränderungen habt ihr im Lauf der Jahre bei Amnesty bemerkt?
Reto: In den ersten Jahren meines Engagements setzten wir uns als lokale Aktivmitglieder nur für Einzelfälle ein. Heute steht der Schutz von Minderheiten-Gruppen stärker im Zentrum, seien es Uiguren, Rohingya oder Homosexuelle, womit die systemischen Menschenrechtsverletzungen stärker an die Öffentlichkeit gebracht werden. Diese Veränderung ist für mich absolut nachvollziehbar. Den Einsatz für einzelne Menschen gibt es ja weiterhin.
Elettra: Als ich mein Studium begann, wurde ich auf das Problem der sexuellen Belästigung aufmerksam gemacht. Heutzutage wird viel darüber gesprochen, auch auf der legislativen Ebene. Ich frage mich ausserdem, ob sich Amnesty schon immer so aktiv an Abstimmungen beteiligt hat.
Reto: Früher war das viel weniger der Fall. Es überzeugt mich auch nicht ganz, wenn Amnesty zu schwergewichtig Position bezieht bei Abstimmungen. Ich finde, dass wir uns auf den Kern der Menschenrechte fokussieren und nicht zu stark ins politische Tagesgeschäft eingreifen sollten. Ich denke da an Vorlagen wie die Konzernverantwortungsinitiative oder das Burka-Verbot. Natürlich muss Amnesty Stellung beziehen, wenn Individualrechte im Inland verletzt werden. Aber grosse Kampagnen zu Abstimmungen sehe ich eher kritisch. In unserer Gruppe besitzt auch nur eine Minderheit der Aktivmitglieder das Schweizer Stimmrecht.
Elettra, wie beurteilst du den Einsatz von Amnesty bei Abstimmungen? F
Elettra: Ziemlich positiv. Amnesty bezieht Stellung, wenn die Menschenrechte direkt betroffen sind. Ich war aktiv vor der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative. Aber das hat viel Energie gekostet, auch weil die Initiative abgelehnt wurde.
Wie seht ihr den Aktivismus auf Social Media? Kann er irgendwann die anderen Aktivitäten ersetzen?
Elettra: Er hat an Bedeutung gewonnen, weil die sozialen Netzwerke im Allgemeinen gewachsen sind, und zwar sehr schnell. Es ist gut, sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen, und es ist wichtig, dass Amnesty dieses Medium nutzt. Aber Strassenaktivismus und menschlicher Kontakt können niemals ersetzt werden.
Reto: Aus meiner Sicht entsteht mit den Social Media ein neues inhaltliches Feld für Amnesty, nämlich was die Beleidigungen angeht, gerade gegen Frauen und Schwule. Ein anderer negativer Aspekt ist, dass diese Technologien manchmal unterwandert respektive verändert werden. Ich habe als ehemaliger Deutschlehrer für Flüchtlinge zum Beispiel mit Eritreern zu tun, die oft monatelang ihre Kontakte mit der Heimat nicht mehr aufrechterhalten können, weil die die Verbindungen unterbrochen wurden. Andererseits gibt es auch positive Aspekte: Viele Leute können global auch in ländlichen Gebieten schnell erreicht und Nachrichten weltweit verbreitet werden.
Welches von all den Themen, zu denen Amnesty arbeitet, liegt euch besonders am Herzen?
Reto: Mir liegt vor allem die Bildung am Herzen. Ich habe im kantonalen Bildungsdepartement gearbeitet, wo es auch um das Recht auf Bildung für Migrantenkinder geht. Kinder und Jugendliche sind sehr sensibel für Fragen der Gerechtigkeit. Über diese Sensibilität können Lehrpersonen aller Stufen die Menschenrechte thematisieren.
Elettra: Es ist schwer, sich für eines zu entscheiden! Persönlich interessieren mich im Moment vor allem die Themen Frauenrechte und Diskriminierungen, die mit geschlechtlicher Identität, sexueller Orientierung und Rassismus zu tun haben. Das sind Themen, die wirklich alle Länder betreffen, auch die Schweiz!
Was wünscht ihr Amnesty zum Geburtstag?
Elettra: Dass wir nach der Pandemie wieder die Motivation finden, uns zu treffen, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Wir müssen die Beziehungen innerhalb von Amnesty neu knüpfen.
Reto: Dass es Amnesty in 60 Jahren nicht mehr braucht, weil alle Rechte eingehalten sind. [lacht] Das ist natürlich sehr idealistisch, und ich weiss, dass es wahrscheinlich nicht so sein wird. Ich wünsche mir, dass Amnesty immer Aktivist*innen haben wird, die alle Menschenrechte auch dort verteidigen, wo dies nicht so einfach ist. Wir müssen insbesondere die Menschen unterstützen, die die Menschenrechte vor Ort verteidigen. Bei uns in der Schweiz braucht das ja wenig Mut! Es steht nie einer vor der Tür und sagt: «Jetzt kannst du gleich mitkommen.»