AMNESTY: Mohamedou Ould Slahi, Sie sassen 14 Jahre ohne Anklage im US-Gefangenenlager Guantánamo ein, erlitten Demütigung und Folter. 2016 liessen die US-Behörden Sie frei und brachten Sie nach Mauretanien zurück. Fühlen Sie sich mittlerweile wieder in Ihrem Leben angekommen?
Mit 30 Jahren haben sich meine Freunde bereits gute Jobs sichern und Geld für ein angenehmes Leben und für Reisen sparen können – bei mir war das anders, ich wurde festgenommen und in die USA verschleppt. Ich muss also viel aufholen und auch die Aufgabe angehen, meinen Ruf wiederherzustellen. Ich versuche positiv und glücklich zu sein. Aber ich kämpfe gleichzeitig gegen das an, was ich als Ungerechtigkeit beschreibe. Und gegen das Stigma.
Sie leben heute im Haus Ihrer Familie in Nouakchott. Während Ihrer Haft hat sich viel verändert – Ihre Mutter, zu der Sie ein enges Verhältnis hatten, ist gestorben, für jüngere Familienmitglieder waren Sie ein Fremder. Finden Sie zu Hause Unterstützung?
Als ich hier ankam, brauchte ich sehr viel Hilfe und war traumatisiert. Ich bin es noch immer. In Mauretanien gibt es keine Ärzte, mit denen man über seine Albträume redet. Gott sei Dank versuchen mich meine Verwandten zu unterstützen. Aber die Menschen in meiner Familie sind einfache Leute. Ich war der Erste, der in ein Flugzeug stieg und Mauretanien verliess, der Erste, der ein Stipendium zum Studieren in Deutschland hatte, der Erste, der nach Afghanistan ging. Und der Erste, der von den USA gekidnappt wurde. Viele der Dinge, die ich getan habe oder die mir angetan wurden, stellen meine Familie vor grosse Herausforderungen.
Die ersten neun Jahre in Haft durfte ich nicht fernsehen. Ich habe davon geträumt, als freier Mensch Satelliten-Fernsehen und alle Kanäle zu besitzen. Als ich rauskam, hat mir meine Familie zwei Fernseher und zwei Satellitenschüsseln besorgt. Ich habe meine Nichte gebeten, mir die Kanäle zu installieren. Sie schaute mich nur an und sagte: ‹Onkel, ich habe noch nie einen Fernseher berührt, ich benutze ein Handy.› Da habe ich mich sehr alt gefühlt.
Nicht im Fernsehen, sondern im Kino ist nun «The Mauritanian» zu sehen, der Ihre Geschichte erzählt. Sie waren bei den Dreharbeiten in Mauretanien und Südafrika teilweise dabei. Wie war das für Sie?
«The Mauritanian» basiert auf meinem Tagebuch, das ich in Guantánamo geschrieben hatte und das während meiner Haft veröffentlicht wurde. Der Film geht aber darüber hinaus. So erzählt er auch von meiner Kindheit und meinem Leben nach der Haft. Die Filmemacher haben in der Vorbereitungsphase mit FBI- und CIA-Agenten gesprochen – einige Dinge habe ich somit erst durch den Film erfahren. Natürlich handelt es sich um eine Dramatisierung, aber der Film beruht auf Fakten. Erst wenige Tage vor Drehbeginn in Südafrika hatten mir die mauretanischen Behörden wieder einen Reisepass ausgestellt. Bei einigen Szenen wollte ich aber gar nicht dabei sein, zum Beispiel wenn es um Folter ging. Ich sage im Film auch einen Satz auf Deutsch, weil ihn Tahar Rahim, der mich spielt, einfach nicht herausbekommen hat: «Deutschland war gut zu mir.»
Sie haben in den 1990er-Jahren in Duisburg studiert, sprechen fliessend Deutsch. Einer Ihrer Brüder lebt in Deutschland, genauso wie Ihre US-amerikanische Frau und Ihr gemeinsamer Sohn. Ein Visum verweigern Ihnen die deutschen Behörden jedoch. Warum?
Meine heutige Frau hatte für einen amerikanisch-palästinensischen Anwalt gearbeitet, der Gefangene in Guantána- mo vertreten hat, darunter meinen Zellennachbarn. So haben wir uns kennengelernt. Sie bekam einen Job als Menschenrechtsanwältin in Berlin angeboten. Darüber haben wir uns gefreut, weil Mauretanien so näherrückte. Wir dachten, dass ich sehr schnell zu ihr reisen könnte. Aber das hat nicht funktioniert. Wir vermuten, dass Druck seitens der US-Regierung auf Deutschland ausgeübt wird.
Als junger Mann sind Sie nach Afghanistan gereist, wollten für die Mudschaheddin kämpfen. Heute setzen Sie sich in Mauretanien gegen Extremismus ein. Was geben Sie jungen Menschen mit?
Zu meinen Nichten und Neffen sage ich immer: Denkt kritisch. Ich war damals sehr naiv und wirklich davon überzeugt, die Welt zum Positiven zu verändern. Die Mudschaheddin hatten jedoch ihre eigene Agenda. Als ich sah, wie sie sich gegenseitig stritten und töteten und das, was Russland nicht schon zerstört hatte, in Trümmern legten, habe ich Afghanistan verlassen. Rückblickend fühle ich mich ausgenutzt. Gewalt ist das Spiel der Regime. Auf der Seite der Bürger stehen das Recht und die Verfassung. Diese Rechte müssen wir ohne Gewalt einfordern, gerade in vielen arabischen Staaten. Gruppen wie der IS sind ja keine Krankheit, sondern ein Symptom.
Sie sagen, dass Sie den USA verziehen haben. Mit dem ehemaligen Wärter Steve Wood, der auch Sie in Guantánamo bewacht hat, sind Sie heute gut befreundet. An der US-Regierung üben Sie weiterhin Kritik. Was fordern Sie von der Regierung Joe Bidens in Bezug auf Guantánamo?
Steve ist für mich wie ein jüngerer Bruder. Ich erinnere mich an den Tag, an dem wir uns in Guantánamo das erste Mal begegnet sind. Er kam in meine Zelle und fragte mich, ob ich Kaffee trinken wolle. Ich war sehr verängstigt und wollte mit niemandem reden. Ich nahm seinen Kaffee an. Steve bot mir an, mit ihm Karten zu spielen, von diesem Moment an waren wir befreundet. Wir haben viele Jahre gebraucht, um unsere Freundschaft öffentlich zu machen.
Ich glaube, dass Joe Biden ein guter Mann ist. Er hat seine erste Frau und seinen Sohn verloren, und ich kann mir nur vorstellen, welchen Schmerz er durchmachen musste. Ich habe ihm einen Brief geschrieben und hoffe, dass er sein Versprechen, das illegale Internierungslager zu schliessen, halten wird. Und ich hoffe, dass die deutsche Regierung Haltung zeigt und Biden ebenfalls an sein Versprechen erinnert.