Peter Benenson, 1991.
© Miguel Arana
1961: Zwei Studenten stossen in einem Café in Lissabon auf die Freiheit an. Eine gefährliche Sache, denn es herrscht eine Militärdiktatur; sie werden denn auch zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Als der britische Rechtsanwalt Peter Benenson davon erfährt, will er nicht weiter tatenlos zusehen. Am 28. Mai 1961 veröffentlicht er im «Observer» den Artikel «The Forgotten Prisoners». Er macht auf das Schicksal politischer Gefangener auf der ganzen Welt aufmerksam und ruft dazu auf, mit Appellschreiben deren Freilassung zu fordern. Das Echo ist gross. Dreissig Zeitungen drucken den «Appeal for Amnesty» ab, über tausend Menschen bieten ihre sofortige Unterstützung an.
Damit war Amnesty International gegründet – verwurzelt in der Idee, dass Menschen wie Sie und ich gemeinsam die Welt verändern können. Heute kann die Organisation weltweit auf zehn Millionen Unterstützer*innen zählen.
Vieles hat sich in diesen 60 Jahren getan. Zehntausende von Menschen, die wegen ihrer Überzeugungen oder ihrer Lebensweise inhaftiert waren, wurden freigelassen. Die Todesstrafe wurde in Dutzenden von Ländern abgeschafft. Bislang unantastbare Staatsoberhäupter wurden zur Rechenschaft gezogen. Geänderte Gesetze, gerettete Leben.
Grosse Entwicklungen
Im Verlauf der Jahre hat sich auch das Gesicht von Amnesty International gewandelt: Zunächst setzten sich die Mitglieder in erster Linie für Gewissensgefangene ein, also für Menschen, die inhaftiert waren, weil sie ihre Meinung friedlich kundgetan hatten. 1963 erlangte in Sibirien der erste Gewissensgefangene die Freiheit, der ukrainische Erzbischof Josyf Slipyi.
Später engagierte sich Amnesty auch gegen die Todesstrafe, Folter und das Verschwindenlassen. In den 1970er-Jahren wurde eine Aktionsform ins Leben gerufen, die bis heute erfolgreich ist: die Urgent Actions (Eilaktionen). Wann immer Amnesty nun von willkürlichen Festnahmen, Morddrohungen, Verschwindenlassen, Folterungen oder bevorstehenden Hinrichtungen erfuhr, wurde mit diesen Urgent Actions öffentlicher Druck auf Verantwortliche ausgeübt. Unzählige Menschen – von China bis Chile, von Syrien bis Simbabwe – konnten so im Laufe der Jahre gerettet werden. Wegen ihrer Verdienste um die Menschenrechte wurde Amnesty International 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Begonnen hat Amnesty also als Gefangenenhilfsorganisation, später kam der Einsatz für bürgerliche und politische Menschenrechte hinzu, danach die Arbeit zu sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Menschenrechten. Zu den Arbeitsgebieten gehören heute der Kampf für Frauenrechte, die Respektierung der Menschenrechte in der Wirtschaft und die Rechte von Geflüchteten, das Thema der Klimagerechtigkeit und seit der Pandemie die gerechte Verteilung von Impfstoffen und Medikamenten.
Die Ausweitung der Themengebiete geschah oft unter Diskussionen. So führte zum Beispiel das Eintreten gegen die Todesstrafe, die 1977 erst in 16 Staaten vollständig abgeschafft war, zu Austritten. Solche Diskussionen sind aber durchaus gewünscht. Denn in einer Organisation mit dem Selbstverständnis einer demokratischen Bewegung bestehen breite Mitbestimmungsmöglichkeiten. Manchen war Amnesty im Lauf der Zeit zu zahm. Anderen wiederum auf zu vielen Gebieten aktiv.
Historische Umwälzungen
Die Gründung von Amnesty fiel in die Hochphase des Kalten Kriegs und in die Zeit, als Kolonien um ihre Unabhängigkeit kämpften. Die Menschenrechte waren zum politischen Spielball zwischen den Supermächten geworden. Um als vertrauenswürdige Organisation agieren zu können, war Neutralität das oberste Gebot für Amnesty. Nach 1989 und dem Zerfall der Sowjetunion veränderte sich das Umfeld grundsätzlich und stellte neue Herausforderungen. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem folgenden «Krieg gegen den Terror» wandelte sich die Welt erneut. Die Globalisierung und die Macht von multinationalen Konzernen taten weitere Themenfelder auf, ebenso die Digitalisierung oder die Gräueltaten von bewaffneten Gruppen.
Auch die Organisationsstruktur wandelte sich über die Jahre. Lange war der Hauptsitz ausschliesslich in London domiziliert, in der vergangenen Dekade hat Amnesty aber auch Regionalbüros in Städten in Afrika, Asien-Pazifik, Mittelund Osteuropa, Lateinamerika und dem Nahen Osten eröffnet. Diese Büros vor Ort sind wichtige Drehscheiben für Recherche, Kampagnen und Kommunikation. Die Regionalbüros verstärken die Arbeit der Sektionen, die bereits auf nationaler Ebene in mehr als 70 Ländern tätig sind.
Bereit für die Zukunft
Agnès Callamard.
© Eileen Barroso / Columbia University
Auch heute noch müssen wir leider Angriffe auf die Menschenrechte verzeichnen. Mit einer neuen Strategie für die nächsten acht Jahre will Amnesty in der Lage sein, sich weiterhin schlagkräftig gegen Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Die Strategie der Schweizer Sektion steht unter dem Leitsatz «Gemeinsam für eine gerechte Welt! Wir setzen uns glaubwürdig, mutig und langfristig mit anderen zusammen dafür ein, dass die Menschenrechte weltweit und in der Schweiz geachtet, geschützt und gewährleistet werden.»
Global wird der Schwerpunkt auf den Themenbereichen «Meinungsfreiheit und Raum für die Zivilgesellschaft» sowie «Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung» liegen. Ein Teil der Ressourcen wird auch weiterhin etablierten Anliegen wie dem Kampf gegen die Todesstrafe oder dem Zugang zu Recht in internationalen Konflikten gewidmet sein, dazu kommen neuere Themenfelder wie Technologie und Klimawandel.
1961 berührte das Schicksal von zwei Menschen Peter Benenson so sehr, dass er aktiv wurde. Auch Agnès Callamard, die seit März an der Spitze von Amnesty steht, hat sich in ihrem Werdegang immer wieder für Einzelschicksale eingesetzt. So hat sie als Sonderberichterstatterin der Uno beispielsweise den Mord am saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi untersucht – und erhielt deswegen Drohungen, die sie jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbrachten. «Ich habe diesen Fall untersucht, nicht weil er wichtiger wäre als ein anderer. Aber daraus lassen sich viele allgemeine Erkenntnisse gewinnen.» Amnestys neue Generalsekretärin macht deutlich, dass die Welt an einem Wendepunkt steht: «Wir müssen bei allem, was wir tun, die Zukunft bedenken. Was wir heute tun – oder eben nicht tun – wird grosse Auswirkungen auf künftige Generationen haben. Das dürfen wir nie vergessen.»
Amnesty in der Schweiz
In der Schweiz, genauer in Genf, entstand schon drei Jahre nach der Gründung der internationalen Bewegung eine Amnesty-Gruppe. Die ersten vier Mitglieder kamen aus dem internationalen Umfeld der Uno-Stadt. Am 3. Oktober 1967 führte diese Genfer Gruppe eine erste Hauptversammlung durch. Ab dann sprach sie von der «Schweizer Sektion». In der Deutschschweiz beschlossen 1969 drei Leute, eine Amnesty-Gruppe zu gründen – ohne Kenntnis davon, dass in Genf bereits eine Gruppe existierte. Als die Deutschschweizer dies schliesslich bemerkten, tat man sich zusammen und hielt am 25. Oktober 1970 in Zürich die erste gemeinsame Hauptversammlung ab. Heute hat die Schweizer Sektion rund 130 000 Unterstützer*innen, und 1500 Aktive engagieren sich in 66 Gruppen. 2020 wurden rund 110 000 Stunden ehrenamtliche Arbeit für Amnesty geleistet. Die Angestellten des Sekretariats sind an vier Standorten tätig: Neben dem Hauptsitz in Bern gibt es Büros in Genf, Zürich und Lugano. Der Sektion steht ein ehrenamtlicher Vorstand vor. Mehr zur Schweizer Sektion von Amnesty International