Ein graues, unscheinbares Haus bietet trans Menschen in der südindischen Stadt Kochi einen Zufluchtsort. Das vierstöckige Gebäude beherbergt eine von drei Schutzeinrichtungen für trans Personen im Bundesstaat Kerala. In der Zweimillionenstadt Kochi ist es die einzige Anlaufstelle, und sie reicht nicht aus. «Wir können 25 Menschen aufnehmen, aber allein in Kochi gibt es mehr als 300 trans Personen», sagt Aditi Achuth, die Leiterin der Einrichtung.
Dennoch sind Schutzeinrichtungen wie diese ein hoffnungsvolles Zeichen. Kerala und einige andere Bundesstaaten haben in den vergangenen Jahren Massnahmen ergriffen, um trans Menschen besser zu schützen – wenn auch schleppend. «Das Haus ist ein Ausgangspunkt für trans Personen, die nach neuen Lebensperspektiven suchen – in einer Gesellschaft, die uns allmählich wieder zu akzeptieren beginnt », sagt Achuth.
«Meine Familie hat mich abgelehnt, und ich bin auf der Strasse gelandet.» Archana
99 Prozent aller trans Menschen in Indien haben nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC) in ihrem Leben mehr als einmal soziale Ablehnung erlebt. «Diskriminierung und Belästigung beginnen oft in der eigenen Familie», sagt Achuth. Auch viele der Menschen, die in dem Haus in Kochi Zuflucht suchen, hätten diese Erfahrung gemacht: «Einige wurden zu Hause rausgeworfen, anderen wurde ihr Leben unmöglich gemacht, bis sie dem Druck nicht mehr standhalten konnten und gegangen sind. Es gibt auch Fälle, in denen es in der Familie zu physischen Angriffen kam.» Einer Studie der NGO Humsafar Trust zufolge hat mehr als die Hälfte aller trans Personen physische Gewalt erlitten. Nicht selten geht diese von Partner*innen oder Familienmitgliedern aus. «Meine Familie hat mich abgelehnt, und ich bin auf der Strasse gelandet», sagt die 19-jährige Archana, ohne das Lächeln auf ihren Lippen zu verlieren. «Für sie war ich eine Schande. Ich komme aus einer kleinen Stadt, und sie sagten mir, dass sie sich vor der Nachbarschaft und im Freundeskreis schämen würden.» Mit 17 sei ihr deshalb keine andere Wahl geblieben, als zu gehen und ihren Lebensunterhalt allein zu verdienen – in einer anderen Stadt.
In Indien werden trans Menschen in allen Lebensbereichen diskriminiert: in der Schule, bei der Arbeit, bei der Gesundheitsversorgung. Weil trans Personen häufig von Mitschüler*innen gemobbt und von Lehrer*innen diskriminiert werden, brechen viele den Schulbesuch ab. Auf dem Arbeitsmarkt bieten sich ihnen nur wenig Möglichkeiten. Viele sind gezwungen, schlechtbezahlte Jobs zu verrichten, andere betteln. Schätzungen zufolge verdienen 60 Prozent der trans Menschen ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit und sind stark von HIV betroffen. Auch von Polizei und Justiz werden sie diskriminiert. Das führt oft dazu, dass sich Betroffene nicht an die Polizei wenden, um Hilfe und Unterstützung zu suchen. «Leider kommt es häufig zu Belästigungen durch die Polizei», sagt Achuth.
Ein weiteres Problem ist der Zugang zum Wohnungsmarkt. Trans Menschen leben oft in armen Stadtteilen oder erfahren durch Wohnungseigentümer*innen und Nachbar* innen Gewalt. «Bevor ich in die Schutzeinrichtung kam, habe ich an 20 verschiedenen Orten gelebt, die ich alle verlassen musste», erzählt die 27-jährige Gowri, während sie sich in einem der grössten Räume auf einem Bett ausruht. «Manchmal weil ich nicht genügend Geld für die Miete hatte, meistens aber wegen Beschwerden der Nachbarschaft.»
Endlich in Sicherheit: Archana im Mai 2019 in einer Schutzeinrichtung in Kochi.
© Oscar Espinosa
Hijras sollen Glück bringen
Dass trans Menschen in Indien soziale Ablehnung erfahren, war nicht immer so. In der indischen Kultur gibt es sogenannte Hijras, die ihre Ursprünge in der hinduistischen Mythologie haben. Sie ordnen sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zu, tragen Frauenkleider und genossen jahrhundertelang grossen Respekt. Im Mogulreich spielten Hijras ab dem frühen 16. Jahrhundert eine bedeutende Rolle an königlichen Höfen und besetzten teils hohe politische Posten.
Erst in der Kolonialzeit verloren die Hijras ihren sozialen Status. Die britischen Kolonialherren betrachteten sie als Bedrohung für die Moral und starteten eine Kampagne, um die Hijras aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verdrängen. Sie wurden zu einer der Gruppen, die gesellschaftlich am meisten stigmatisiert wurden. 1871 klassifizierte sie ein Gesetz als Kriminelle.
Heute wird der Begriff Hijra im alltäglichen Sprachgebrauch für alle Personen verwendet, die als transgeschlechtlich wahrgenommen werden. Doch viele wehren sich gegen die Bezeichnung. Auch Achuth und die anderen Menschen in der Schutzeinrichtung wollen nicht so genannt werden. «Wir sind alle trans, aber nicht alle von uns sind Hijras», sagt Achuth. «Wir kämpfen denselben Kampf, und wir sind uns in vielen Aspekten einig, aber wir sind nicht alle gleich.»
Obwohl das stigmatisierende Gesetz nach der indischen Unabhängigkeit abgeschafft wurde, erlangten die Hijras ihren alten Status nicht wieder. Sie waren weiterhin marginalisiert und lebten hauptsächlich von Bettelei und Prostitution. Heute lösen Hijras bei einigen Menschen Bewunderung aus, bei anderen Angst. Weitverbreitet ist die Idee, sie könnten Menschen segnen oder verfluchen, ihre Fruchtbarkeit fördern oder mindern. Oft tanzen und singen Hijras bei Hochzeiten und Geburtstagen, denn das soll Glück bringen. Als Gegenleistung erhalten sie Opfergaben oder Geld.
2014 hat Indiens Oberster Gerichtshof trans Menschen und inter Personen als drittes Geschlecht anerkannt.
2014 hat Indiens Oberster Gerichtshof trans Menschen und inter Personen als drittes Geschlecht anerkannt. Zugleich forderte er die Regierung auf, sie wie andere Minderheiten zu behandeln, Quotenregelungen in den Bereichen Bildung und Beschäftigung einzuführen und ihnen Zugang zum Gesundheitssystem zu gewähren. «Trans Menschen sind auch Bürger*innen Indiens und müssen die Möglichkeiten haben, sich zu entwickeln«, hiess es in dem Urteil.
Kostenlose Geschlechtsangleichungen
Das Gericht riet der Zentralregierung und den Bundesstaaten, eine wirksame Sozialfürsorge und Sensibilisierungskampagnen zu entwickeln, um der Stigmatisierung von trans Menschen entgegenzuwirken. Der südindische Bundesstaat Kerala war einer der ersten, die reagierten. Er ergriff sozialpolitische Massnahmen für trans Personen und entschied 2019 ausserdem, dass Operationen zur Geschlechtsangleichung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos vorgenommen werden können.
Zuvor hatte bereits der Bundesstaat Tamil Nadu kostenlose Operationen zur Geschlechtsangleichung eingeführt sowie staatliche Bildungsstipendien für trans Menschen, um ihnen Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen.
Auch in anderen Bundesstaaten gab es Initiativen, um ihre Lage zu verbessern. So erhalten sie in Bihar beispielsweise finanzielle Unterstützung für eine Geschlechtsangleichung. Sowohl in Maharashtra als auch in Gujarat gibt es Gesundheits- und Bildungsprogramme sowie öffentliche Kampagnen, die für das Thema sensibilisieren. Und die Regierung von Jammu und Kaschmir bietet trans Menschen über 60 Jahren eine Altersrente an.
«Das wachsende Vertrauen und die Sichtbarkeit, die die Community in den vergangenen Jahren gewonnen hat, sind ein hoffnungsvoller Fortschritt», sagt Thomas Isaac, der Finanzminister von Kerala. «Wir müssen uns dafür einsetzen, dass sich trans Personen als Teil der Gesellschaft fühlen.» 2020 gab der Bundesstaat 50 Millionen Rupien (umgerechnet etwa 570 000 Euro) für das sogenannte Mazhavillu- Programm aus, das trans Menschen unter anderem in den Bereichen Berufsausbildung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung unterstützt.
Für das Jahr 2021 hatte der Finanzminister die gleiche Summe zur Fortsetzung des Programms versprochen. Das war jedoch noch vor Ausbruch der Corona-Krise. «Jetzt gibt es andere Prioritäten», sagt Achuth. «Und wir bekommen das Geld nicht, um unsere Projekte durchzuführen.» Die Zentralregierung kündigte mit dem landesweiten Lockdown zwar ein Konjunkturpaket an, das spezifische Massnahmen für schutzbedürftige Gruppen umfasst, trans Menschen wurden dabei jedoch nicht berücksichtigt. Der Bundesstaat Kerala beschloss allerdings, Hilfsgüter an 1000 registrierte trans Menschen zu verteilen, 127 wurden durch die Schutzeinrichtung in Kochi mit Hilfsgütern versorgt. «Das löst das Problem zwar nicht, weil es nur eine kleine Hilfe ist, aber im Moment ist es das Einzige, was wir tun können», sagt Achuth.