Immer mehr Elektroschrott, der sich in China türmt. Ein dystopisches Bild, wie das in Zukunft aussehen könnte, zeichnet Autor Chen Qiufan. © Getty Images / Jie Zhao
Immer mehr Elektroschrott, der sich in China türmt. Ein dystopisches Bild, wie das in Zukunft aussehen könnte, zeichnet Autor Chen Qiufan. © Getty Images / Jie Zhao

MAGAZIN AMNESTY Kultur Kritik in der Zukunft

Von Felix Lee. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom August 2021.
Science-Fiction aus China wird weltweit immer populärer. Zugleich bewegen sich die Autor*innen ständig am Rande verbotener Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen.

Giftige Dämpfe steigen aus dem Müll auf. Es haben sich ganze Berge von alten Virtual-Reality-Brillen und Cyber- Implantaten gebildet, aus denen abgerissene Kabel hängen. Kinder in Lumpen durchsuchen die Industrieabfälle nach verwertbaren Metallen. Der Nachschub stockt nie, denn der Elektroschrott der gesamten Welt wird auf dieser Insel recycelt. Diese Vision entwirft der Science-Fiction- Autor Chen Qiufan in seinem Roman «Die Siliziuminsel». Die Insel irgendwo im Südwesten Chinas ist zwar erfunden, für den düsteren Schauplatz gibt es allerdings ein reales Vorbild. In Chens Heimatprovinz Guangdong befindet sich die grösste Elektronikschrotthalde der Welt.

Science-Fiction aus China wird derzeit weltweit viel gelesen. Das hat auch mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Genres zu tun. Die Handlung in Romanen wie dem von Chen Qiufan ist frei erfunden. Doch wie in den meisten Science-Fiction- Geschichten geht es um aktuelle und höchst irdische Probleme.

Wie in den meisten Science-Fiction-Geschichten geht es um aktuelle und höchst irdische Probleme.

Die chinesische Science-Fiction fühlt sich besonders real an, denn das Land mit seinen vielen modernen Städten und technischen Neuerungen ist ein idealer Nährboden für futuristische Geschichten. Zugleich kämpfen viele Charaktere mit dem rasanten technologischen Wandel und seinen gesellschaftlichen Folgen. So auch in Liu Cixins Roman «Die drei Sonnen». Darin geht es vordergründig um eine chinesische Astrophysikerin, die als erster Mensch Kontakt zu einem ausserirdischen Pazifisten vom Planeten Trisolaris hat. Weil dessen Zivilisation vor der Zerstörung steht, soll die Erde zum neuen Lebensraum werden. Der Hintergrund der Astrophysikerin ist äussert real, eingebettet in die Kulturrevolution der späten 1960er-Jahre. Die Protagonistin muss mit ansehen, wie ihr Vater von Rotgardisten zu Tode geprügelt wird. Was Liu in seinem Roman beschreibt, hat es in der Volksrepublik zehntausendfach gegeben. Nachdem 2014 die englische Übersetzung erschienen war, erhielt Liu als erster asiatischer Autor einen Hugo-Award, einen der weltweit wichtigsten Science- Fiction-Literaturpreise. Liu Cixins Erfolg rückte die Subkultur der chinesischen Sci-Fi-Autor*innen ins Rampenlicht.

Unter Xi Jinping wird die Literatur so stark zensiert wie seit Maos Zeiten nicht mehr.

Doch auch in der Volksrepublik werden diese Science-Fiction-Romane millionenfach verkauft. Das überrascht. Denn unter Xi Jinping wird die Literatur so stark zensiert wie seit Maos Zeiten nicht mehr. Schriftsteller*innen müssen mit Verfolgung und Haft rechnen, wenn sie systemkritische Inhalte veröffentlichen. Doch offenbar steht die Führung vor einem Dilemma: Die weltweite Beliebtheit der chinesischen Science- Fiction-Romane ermöglicht ihr ein gewisses Mass an kulturellem Einfluss auf den Rest der Welt – sogenannte Softpower, nach der sich die KP-Führung sehnt. Dass die Science-Fiction-Autor*innen mit ihren Werken auch in China selbst durchkommen, führt der ebenfalls mit dem Hugo-Award ausgezeichnete USAutor Ken Liu unter anderem darauf zurück, dass die zumeist jungen Autor*innen wissen, wie viel Verfremdung nötig ist, um an der Zensur vorbeizukommen. Wie es ihnen gelinge, unter diesen Bedingungen sozialkritische Plots zu entwickeln, sei «meisterhaft».