AMNESTY: Wie wirkt sich die Inhaftierung eines Menschen auf seine Angehörigen aus?
Sophie de Saussure: Angehörige können auf unterschiedliche Weise von einer Inhaftierung betroffen sein, sei es psychisch, sozial oder auch ökonomisch. Wenn eine Person inhaftiert wird, fällt ein Einkommen weg. Die Angehörigen müssen nicht nur dieses fehlende Gehalt auffangen, es fallen oft noch zusätzliche Ausgaben an: Anwaltskosten und allenfalls Entschädigungszahlungen. Auch die Ausgaben für die Fahrten zum Gefängnis, das oft weit vom Stadtzentrum entfernt ist, können das Familienbudget schwer belasten. Oft muss eine Lösung für die Kinderbetreuung gefunden werden, an der Arbeitsstelle muss geklärt werden, wie man sich für Besuche frei nehmen kann. All dies kann dazu führen, dass Angehörige von Inhaftierten auf Sozialhilfe zurückgreifen müssen. Hinzu kommen das soziale Stigma und die Scham der Angehörigen, die sich teils mitschuldig fühlen am Verbrechen der Inhaftierten – einfach, weil sie mit ihnen eine Beziehung hatten. Besonders hoch ist die Last für Frauen: Meist sind sie es, die die Inhaftierten regelmässig besuchen, ihnen Wäsche bringen und sich daneben um die Kinder und den Haushalt kümmern.
Wie gehen Kinder mit der Trennung um?
Es ist wichtig, Kinder nicht zu pathologisieren oder nur als Opfer zu sehen. Kinder sind oft widerstandsfähig und tapfer. Die Beziehung zu einem inhaftierten Elternteil aufrechtzuerhalten ist jedoch mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Die Kinder sind abhängig von den restriktiven Besuchszeiten und den Bestimmungen des Gefängnisses, aber auch von den Sorgerechtsregelungen und dem Wohlwollen der Eltern. Jedes Kind reagiert anders, je nach familiärem Kontext: Einige haben grosse Angst, sind unruhig. Andere wissen gar nicht von der Haft; ihnen wird gesagt, der Vater oder die Mutter sei auf Reisen oder im Krankenhaus. Kommt die Wahrheit ans Licht, können die Lügen grosse Frustration und Ablehnung auslösen.
Welche gesetzlichen Bestimmungen schützen in der Schweiz die Rechte von Angehörigen?
Eine inhaftierte Person hat laut Gesetz das Recht, den Kontakt zur Aussenwelt aufrechtzuerhalten. Für die Angehörigen gibt es jedoch kein entsprechendes Gesetz. Auf internationaler Ebene besagen die Mandela-Regeln der Uno, dass Besuche auch im Interesse der Familie erfolgen müssen. Besuche sind für die Angehörigen der Inhaftierten aber nicht immer gut, und manchmal sind sie auch unerwünscht. Was die Kinder betrifft, so hat der Uno-Ausschuss für die Rechte des Kindes die Schweiz 2015 kritisiert, weil es hierzulande keine Daten über die Zahl der Kinder gibt, die von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen sind. Diese Daten wären aber notwendig, um eine politisch wirksame Strategie zu entwickeln. Kurzum, ihre Situation in der Schweiz bleibt unklar.
«Die Missachtung der Angehörigen spiegelt sich auch in der schweizerischen Gesetzgebung.» Sophie de Saussure
Die Missachtung der Angehörigen spiegelt sich auch in der schweizerischen Gesetzgebung. Es gibt jedoch Bestimmungen, die sie indirekt betreffen. So sieht das Strafgesetzbuch vor, dass familiäre Verpflichtungen bei der Berechnung der Tagesansätze von Geldstrafen berücksichtigt werden. So soll verhindert werden, dass die Strafe den Unterhalt der Familie gefährdet. Ein weiteres Beispiel: Während der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlaubt das Strafgesetzbuch das Zusammenleben von Mutter und Kind, bis diese drei Jahre alt sind. Doch in der Praxis sind die Haftbedingungen streng, und die Zahl der entsprechenden Haftzellen ist unzureichend: In der Deutschschweiz gibt es nur sechs, in der Westschweiz zwei solche Zellen. Für Väter, die mehr als die Hälfte der männlichen Gefängnisinsassen ausmachen, gibt es keine solchen Einrichtungen. Es sind vor allem Nichtregierungsorganisationen und private Stiftungen, die sich um die Bedürfnisse der Angehörigen kümmern und diesen Informationen und psychologische Unterstützung anbieten.
Wie erklärt sich diese mangelnde Berücksichtigung von Angehörigen?
Einer der Hauptgründe liegt sicherlich in der westlichen Strafrechtstradition, die auf der individuellen Verantwortung basiert und den Fokus auf die Bestrafung der Täter*innen richtet. Was dabei vergessen geht: Eine Inhaftierung hat kollektive Folgen und wirkt sich auf die Angehörigen aus. Eine Haftstrafe wird weiterhin als die wirksamste Form der Bestrafung angesehen, obwohl sie oft schädlich ist und zur Entstehung neuer sozialer Probleme beiträgt. Ein weniger strafender und stärker auf Wiedergutmachung ausgerichteter Ansatz könnte einige der Probleme lösen. Anstatt Hunderte von Franken pro Tag für eine Zelle auszugeben, könnte die Regierung in Sozialhilfe- und Wohnungsprogramme investieren. Dies würde es ermöglichen, die Anliegen der Angehörigen besser zu berücksichtigen und die Überbelegung von Gefängnissen zu verringern. Man könnte auch zu konstruktiveren Bestrafungsmethoden greifen, die die Gefangenen nicht von der Aussenwelt abschneiden.
Gibt es Länder, die die Rechte von Angehörigen besser berücksichtigen und von denen die Schweiz sich inspirieren lassen könnte?
Das Ministerkomitee des Europarats hat 2015 einige interessante Ideen für die Verbesserung der Lage von Kindern von Häftlingen veröffentlicht. Im Vereinigten Königreich sind die Gerichte verpflichtet, die Situation minderjähriger Kinder zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung einzubeziehen. Das betrifft etwa die sozio-ökonomische Situation und die Beziehungsverhältnisse der Familie. Auch in der Schweiz können Gerichte diese Informationen berücksichtigen, allerdings tun sie dies nur nach dem Zufallsprinzip. Sie sind dabei abhängig von den Angaben, die sie von den Anwält*innen und von der angeklagten Person erhalten. Ein weiteres Beispiel ist Italien: Im Jahr 2016 unterzeichnete die Regierung gemeinsam mit einer NGO eine Charta zur Verbesserung der Rechte von Kindern von Häftlingen. Diese sieht vor allem vor, die Aufnahme von Kindern ins Gefängnis zu verbessern und vorzugsweise Strafen ohne Freiheitsentzug auszusprechen, damit die familiären Beziehungen aufrechterhalten werden können. In Brasilien gibt es eine entsprechende Bestimmung, die Mütter mit Kindern unter 12 Jahren wenn möglich unter Hausarrest stellt, statt sie zu inhaftieren. Es gibt aber auch in der Schweiz Verbesserungen: Der Kanton Waadt zum Beispiel hat eine spezielle Verordnung für Gefängnisbesuche erlassen, sollten sie ein Risiko für Kinder darstellen – etwa wenn die Kinder häusliche Gewalt erleben mussten.