Die Schulferien in der Schweiz gingen gerade zu Ende, da kam die Schreckensnachricht: Die Taliban hatten Afghanistan Mitte August unter ihre Kontrolle gebracht. Besorgt verfolgte ich die Berichte aus dem Land, das ich mehrfach als Journalistin besuchen durfte. Über Whatsapp und Signal erreichten mich Mitteilungen von Bekannten und ehemaligen Kolleg*innen aus Kabul.
Vor 20 Jahren reiste ich als Fernsehreporterin zum ersten Mal in die Hauptstadt Afghanistans. Das flaue Gefühl im Magen beim sturzartigen Landeanflug auf Kabul habe ich danach noch einige Male erlebt. Nach der Ankunft war ich stets fasziniert von der grandiosen Bergkulisse, der quirligen Stadt, den freundlichen Menschen und der unglaublichen Gastfreundschaft. Als Reporterin besuchte ich neu entstandene Mädchenschulen, interviewte Studentinnen, Politikerinnen und Menschenrechtsaktivistinnen und arbeitete mit TV-Kolleg* innen zusammen. Immer konnte ich mich auf die Unterstützung der Dolmetscher* innen, Fahrer und Guides verlassen. Sie alle schweben jetzt in Lebensgefahr.
Schon vor der Übernahme des Landes durch die Taliban war das Leben für alle gefährlich, die sich jahrelang für Gleichberechtigung und für eine bessere Zukunft eingesetzt hatten. Doch mit der Eroberung Kabuls durch die Taliban am 15. August verloren vor allem die Frauen und Mädchen des Landes auf einen Schlag ihr normales Leben. Denn die Taliban machten nie einen Hehl daraus, was sie davon halten, wenn Frauen lernen, studieren, arbeiten und in der Öffentlichkeit sichtbar sind. Diese Frauen müssen nun erst recht fürchten, dass sie und ihre Familien Ziel eines Anschlags werden. Seit der Machtübernahme dürfen Frauen und Mädchen nicht mehr zur Schule oder zur Arbeit. Die Jüngeren wissen nicht, wie ihnen geschieht. Die etwas Älteren, die bereits die letzte Herrschaft der Taliban miterleben mussten, haben Angst, verstecken sich.
Zwar sicherten die Taliban anfangs zu, die Menschenrechte achten zu wollen – im Rahmen der Scharia. Sie versprachen, keine Rache zu üben an den Menschen, die für die geflohene Regierung, internationale Organisationen und westliche Staaten gearbeitet hatten. Sie gelobten, Minderheiten zu achten. Was ihr Wort wert ist, sehen wir seitdem. Amnesty International, andere Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen mussten bereits zahlreiche Berichte über Menschenrechtsverletzungen und aussergerichtliche Tötungen veröffentlichen.
Die Menschen in Afghanistan werden ihrem Schicksal überlassen. Es gibt kaum Möglichkeiten zur Flucht, die Grenzen sind dicht, Papiere schwer zu bekommen, und die Flucht auf dem Landweg vorbei an den Kontrollen der Taliban ist lebensgefährlich. Die Schweiz hat, wie die meisten anderen europäischen Länder, gerade einmal die eigenen Lokalkräfte und ihre engsten Familienangehörigen ausgeflogen. Das ist nicht genug. In der Schweiz leben rund 20 000 Afghan*innen, die um das Leben ihrer Liebsten fürchten. Sie kämpfen weiter, wie auch wir es bei Amnesty tun. Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass es sichere Fluchtrouten gibt und Afghan*innen die Möglichkeit bekommen, in einem anderen Land Sicherheit zu finden. Denn das sind wir ihnen schuldig.