Marinierte Hähnchenspiesse, eine Schale mit cremigem Hummus und ein Berg Batata Harra: Jessy Bali bereitet in der Küche von Pistache et Rose die bestellten Menüs für den nächsten Tag vor. Die ursprünglich aus Aleppo stammende Architektin lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern seit sieben Jahren in Genf. Den Catering-Service hat sie 2019 aus Liebe zum Kochen aufgebaut, aber auch, weil sie Frauen aus Syrien beschäftigen wollte, damit diese sich in den Arbeitsmarkt integrieren können.
Jessy weiss, wie schwierig es ist, in der Schweiz eine Arbeitsstelle zu finden. Fast fünf Jahre lang suchte sie vergeblich einen Job. Heute arbeitet sie zusätzlich zu ihrem Catering-Service Teilzeit in einem Architekturbüro. Zuerst absolvierte sie eine Reihe von Praktika, dann machte sie den Master in Denkmalpflege an der Universität Genf. «Ich habe mich immer wieder beworben, aber ich bekam keine Antwort oder wurde abgelehnt – trotz meines Universitätsabschlusses und obwohl ich bereits Französisch konnte. Stellen Sie sich die Situation anderer Frauen vor, die nicht über diesen Hintergrund verfügen.»
«In einem fremden Land fühlen wir uns oft verlassen. Das Essen verbindet uns mit den Erinnerungen und ist ein Bezugspunkt zur eigenen Identität.» Jacques Barou, Migrationssoziologe und Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique (CNRS)
Die Idee für den Catering-Service hatte Jessy schon lange. Doch erst als eine Freundin ihr von Alter Start erzählte, einer Organisation, die Migrant*innen bei ihren beruflichen Projekten unterstützt, tat sich etwas. 40 Prozent der Teilnehmenden wenden sich schliesslich dem Gastgewerbe zu – so auch Jessy. Sie werden in Management und Administration einer Küche ausgebildet, kochen mit einem professionellen Koch und bieten Gästen Menüs an, die ihre Kultur widerspiegeln. Für Jacques Barou, Migrationssoziologe und Forschungsdirektor am französischen Forschungsinstitut Centre national de la recherche scientifique (CNRS), ist das Gastgewerbe attraktiv, weil hier ein erster Schritt zum Bestreiten des Lebensunterhalts gemacht werden kann. Und weil hier der «Schock des Exils» gemildert wird: «Geschmacksempfindungen sind mit Emotionen verbunden. In einem fremden Land fühlen wir uns oft verlassen. Das Essen verbindet uns mit der Familie, mit den Erinnerungen und ist ein Bezugspunkt zur eigenen Identität.»
Jacques Barou zufolge hat die Migration zu einer Veränderung der Konsumgewohnheiten geführt. «In den 1950er-Jahren waren ausländische Restaurants etwas Exotisches und wurden nur selten von Westlern besucht. Heutzutage nehmen sie einen zentralen Platz in unseren Gesellschaften ein.» Allerdings können Lebensmittel auch Ablehnung hervorrufen, wie die Angriffe auf Kebabstände in Frankreich zeigen.
Jessy Balis Küche ist für viele Migrantinnen ein zweites Zuhause.
© Pistache et rose/Sophie Miquel
Schon als Kind stand Jessy täglich in der Küche: Ihr Onkel betrieb ein eigenes Restaurant, ihre Mutter und ihre Grossmutter seien «begnadete Köchinnen» gewesen. Trotzdem hatte sich Jessy nie vorstellen können, einst die Küche ihren Arbeitsplatz zu nennen. Nun steckt sie ihr ganzes Herzblut in das Catering-Geschäft. Hier treffen christliche und muslimische Frauen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen aufeinander. Migrantinnen, die von ihren Familien getrennt wurden, finden hier einen sicheren Raum.
Jessys Küche bietet typische Gerichte aus Aleppo an. «In der Schweiz ist mir aufgefallen, dass die Speisekarten der libanesischen und der syrischen Restaurants immer ähnlich sind. So sind die Kibbeh überall gleich, dabei gibt es über fünfzig Varianten!» Nebst zehn unterschiedlichen Versionen dieser Hackfleischbällchen bietet Pistache et Rose die Klassiker Hummus und Labneh, aber auch viele andere, hierzulande weniger bekannte Gerichte an. «Das Kochen erlaubt uns, den Schweizer*innen unsere Kultur näherzubringen und gleichzeitig die Erinnerung an unsere Heimat zu bewahren.»
Stereotype abbauen
Auch für andere Menschen kann die Küche ein Mittel zur Integration und Inklusion sein. Das Tagesgericht bestellen, ohne zu sprechen? Das ist das Konzept von Vroom, einem von Gehörlosen und Hörgeschädigten geführten Restaurant, das Anfang 2022 im Zentrum von Genf eröffnet werden soll. Eine Premiere in der Schweiz. «Dieses Restaurant wird zeigen, dass gehörlose und hörende Menschen Hand in Hand arbeiten können», sagt Mehari Afewerki, der Initiator des Projekts, der selbst gehörlos ist. Elodie Ernst, die Kommunikationsmanagerin des Projekts, fügt hinzu: «Das Projekt wird auch dazu beitragen, die immer noch zahlreichen Vorurteile über Behinderungen zu dekonstruieren.»
Das Ziel von Vroom ist es, nicht nur einen Treffpunkt für Gehörlose zu schaffen, sondern auch das Bewusstsein für Behinderungen zu schärfen. Dazu muss das Restaurant an die Bedürfnisse der Gehörlosen angepasst sein: Eine gute Sicht hat dabei oberste Priorität, so soll die Küche zum Speisesaal hin geöffnet sein. Helle Möbel und Fenster sorgen für ausreichend Licht. Die Kund*innen können ihre Bestellungen über ein Tablet aufgeben und mit einem aufleuchtenden Gerät die Kellner*innen herbeibitten. An jedem Tisch wird ein Handbuch aufliegen, das die Grundlagen der Gebärdensprache für die Verständigung im Restaurant erklärt. «Hörende Menschen gehen davon aus, dass die Kommunikation mit Gehörlosen beinahe unmöglich ist», sagt Mehari. Dabei gebe es mehr als nur die gesprochene Sprache: «Wir können von den Lippen lesen, es gibt Gesten und auch die Schrift. Wenn alle ein paar Grundkenntnisse der Gebärdensprache erwerben würden, wäre es viel einfacher.» So sollen gelegentlich Gebärdensprach-Workshops und stille Abende veranstaltet werden, damit die Kund*innen in diese Welt eintauchen können.
«Ich bringe den Gästen grundlegende Zeichen bei. Ich kann alles machen, ausser telefonieren!» Mehari Afewerki, Initiator von Vroom
Derzeit arbeitet Mehari in einem eritreischen Restaurant. Er sagt, er habe Glück gehabt, einen aufgeschlossenen Arbeitgeber zu finden. «Bei meinen Kochprüfungen wurde mir ein Dolmetscher verweigert, obwohl ich gesetzlich dazu berechtigt bin. Ich musste kämpfen, um meinen Anspruch durchzusetzen.» Er ist überzeugt, dass Vielfalt der Schlüssel zur Inklusion ist: «Ich habe natürlich eine Weile gebraucht, um mich anzupassen. Ich habe Fehler gemacht, ich habe Cola statt Wein serviert. Aber nach und nach begriff die Kundschaft, dass sie mich ansehen muss, um sich zu verständigen. Ich bringe den Gästen grundlegende Zeichen bei. Ich kann alles machen, ausser telefonieren!»
Stereotype gegenüber Hörbehinderten wirken sich auf den Arbeitsmarkt aus. In Europa sind nach Angaben der Europäischen Kommission mehr als 50 Prozent der gehörlosen Bevölkerung arbeitslos. In der Schweiz sind sie im Durchschnitt viermal stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Corona-Krise hat die Ausgrenzung noch verschärft. «Die Masken verhindern, dass wir die Mimik unserer Mitmenschen erkennen und von den Lippen ablesen können», sagt Elodie. Die meisten würden sich weigern, ihre Masken abzunehmen. Mehari und Elodie hoffen, dass ihr Restaurant das Bewusstsein für Hörbehinderte schärft und dass weitere Arbeitgeber*innen ermutigt werden, integrative Teams aufzubauen.