LGBTI*-Personen sind online oft mit beleidigenden oder transphoben Kommentaren konfrontiert. © muellerluetolf.ch/Samira Oschounig
LGBTI*-Personen sind online oft mit beleidigenden oder transphoben Kommentaren konfrontiert. © muellerluetolf.ch/Samira Oschounig

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin März 2022: Digitalisierung Das Internet ist nicht regenbogenfarben genug

Von Olalla Piñeiro Trigo. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2022.
Ein mächtiges Empowerment-Tool auf der einen Seite, ein Nährboden für Diskriminierung auf der anderen: Für die LGBTI*-Gemeinschaft können die sozialen Netzwerke gefährlich sein.

Ich würde dir gerne mit Säure und einem Messer den Rest geben.» Die Drohung, die Loïc Valley auf dem Instagram- Account erhielt, schockiert. Als künstlerisch aktive und nicht-binäre Person betreibt Valley seit drei Jahren einen Bildungsaccount zu Transidentität und Genderfragen. «Alles begann mit einer Geschichte, in der ich mich als nicht-binär geoutet habe. Das hat Reaktionen hervorgerufen, die Leute interessierten sich für diese Themen. Ich habe dann nach und nach angefangen, Studien zu diesen Themen auf den sozialen Medien zu teilen.» Ursachen und Auswirkungen von Genderdysphorie*, Werkzeuge für eine inklusive Sprache, eine Antwortseite für häufig gestellte Fragen (FAQ): Valleys Account richtet sich an ein sachkundiges Publikum, aber auch an Menschen, die sich weiterbilden wollen. Doch dieses Engagement rief nicht nur positive Reaktionen hervor. Gewisse beleidigende oder transphobe Kommentare zielten darauf ab, Loïc Valleys Identität infrage zu stellen. «Ich habe auch schon Morddrohungen erhalten», sagt Valley. «Ich lösche sie direkt, ohne dass es mich allzu sehr beeinträchtigt. Aber das ist bei weitem nicht bei allen Betroffenen der Fall.»

Fast 70 Prozent der Lesben, Schwulen und Bisexuellen sind schon einmal Opfer von Cybermobbing geworden. 

Loïc Valley wurde bislang von permanenten Belästigungen verschont, was wahrscheinlich auf die geringe Reichweite des Instagram-Accounts zurückzuführen ist. Doch die LGBTI*-Gemeinschaft ist häufig das Ziel von Hassreden, sowohl im öffentlichen Raum als auch im Internet. Laut einem Bericht des Pew Research Center sind fast 70 Prozent der Lesben, Schwulen und Bisexuellen schon einmal Opfer von Cybermobbing geworden. Bei anderen Menschen liegt diese Zahl bei 40 Prozent. Mehr als die Hälfte der Betroffenen erhalten physische Drohungen oder werden sexuell belästigt. Die Zahl ist fast doppelt so hoch wie bei heterosexuellen Personen. In der Schweiz gibt es noch keine breit angelegten Studien, aber die ersten Zahlen bestätigen diese Prävalenz: Laut einer Studie von Pink Cross, der Dachorganisation der schwulen und bisexuellen Männer, aus dem Jahr 2020 gehört das Internet zu den drei Orten, wo queere Personen am häufigsten belästigt werden.

Unsichere Plattformen

Gary Goldmann, Programmmanager bei Out in Tech, einer New Yorker NGO für queere Menschen, die in der Tech-Branche arbeiten, kennt sich mit Belästigungen aus. «Während der Pandemie haben wir ab und zu Zoom-Partys veranstaltet, um zu verhindern, dass Leute allein sind. Eine Person teilte den Link in den sozialen Medien. Daraufhin haben sich Unbekannte eingeschleust und uns beleidigt», sagt Gary Goldman. Als er dieses Konto bei Twitter meldete, weigerte sich die Plattform, es zu sperren. Das Verhalten verstosse nicht gegen die Richtlinien von Twitter. Für Goldmann ist klar: «Diese Tech-Giganten sollten dafür verantwortlich sein, ihren Nutzer*innen ein gesundes Umfeld zu bieten.»

Ein Ziel, das noch lange nicht erreicht ist. Laut dem Media Safety Index, der 2021 von der Gay & Lesbian Alliance Against Defamation (GLAAD) gegründet wurde, gelten die fünf grössten sozialen Netzwerke der Welt – Facebook, Youtube, Twitter, Instagram und Tiktok – als unsicher für queere Menschen. Neben den online verbreiteten Hassreden werden auch Versäumnisse bei der Meldung von Missständen und Lücken beim Datenschutz angeprangert.

In gewissen Ländern kann es verheerend sein, sich als queere Person in den sozialen Medien zu bewegen. In 69 Staaten ist Homosexualität noch immer strafbar. Sex mit gleichgeschlechtlichen Partner*innen kann im Iran, in Nigeria oder Saudi-Arabien mit dem Tod, auf mehreren karibischen Inseln mit lebenslanger Haft, in Kenia mit 14 Jahren Gefängnis bestraft werden.

Einige Regierungen nutzen die sozialen Medien gezielt, um gegen queere Personen vorzugehen. Das zeigt ein Beispiel aus Ägypten, wo die Behörden falsche Accounts auf der LGBTI*-Dating-Plattform Grindr einrichteten, um schwule Männer aufzuspüren. Ziel war es, visuelle und schriftliche Beweise zu sammeln, um die Männer nach dem Cybersicherheitsgesetz wegen «Anstiftung zur Unzucht» zu verurteilen. In Marokko wurden mehrere Jugendliche gegen ihren Willen geoutet, nachdem eine Influencerin ihre Follower*innen dazu aufgerufen hatte, LGBTI*-Personen auf verschiedenen Dating-Plattformen in die Falle zu locken. Sie teilte Fotos von queeren Jugendlichen in Whatsapp- und Facebook-Gruppen. Einige wurden daraufhin von ihrer Familie verstossen oder verloren ihren Job, andere begingen Suizid.

Wichtiger Zufluchtsort

Auch wenn die Risiken unbestreitbar sind, warnt Gary Goldmann davor, soziale Netzwerke nur mit negativen Aspekten gleichzusetzen. «Das Web ist manchmal der einzige Zufluchtsort für verletzliche Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität unterdrückt werden. » Die Plattformen ermöglichen es, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen – und das mit einer gewissen Anonymität.

Auch Loïc Valley ist der Meinung, dass das Web ein Ort des Empowerments sein kann. «Es ist für nicht-binäre Personen mit einem sogenannt männlichen Aussehen nicht immer einfach, in die LGBTI*-Szene einbezogen zu werden», * Genderdysphorie ist das Gefühl von Angst, Reizbarkeit oder Hilflosigkeit, das durch den Unterschied zwischen der Art und Weise, wie man sich selbst wahrnimmt, und der Art und Weise, wie man von seinem sozialen Umfeld wahrgenommen wird, entsteht. Genderdysphorie kann sowohl sozial als auch physisch sein. sagt Valley. Während gewisser Veranstaltungen kam bei Valley das Gefühl auf, dass einige Teilnehmer*innen Valleys Berechtigung, am Forum teilzunehmen, als illegitim betrachteten, da sie wegen des Äusseren von einem Cis-Mann ausgingen. Da half das Profil, das Valley von sich auf den sozialen Medien eingerichtet hatte. «Mein Account hat es mir ermöglicht, zu erklären, wer ich bin, und mir ein queeres Netzwerk aufzubauen. Ich kann auf die Unterstützung von Menschen zählen, die ich noch nie gesehen habe.»

Die Vielfalt retten

Auch wenn die Tech-Giganten ihre Politik angesichts der Kritik nach und nach verbessert haben, bleibt noch viel zu tun. Um die Inklusivität zu stärken, gibt die Gay & Lesbian Alliance Against Defamation (GLAAD) eine Reihe von Empfehlungen ab: Beschäftigung von Spezialist*innen für LGBTI*- Themen, Änderung der Empfehlungsalgorithmen, um die Flut extremistischer Inhalte zu verhindern, LGBTI*-Inhalte aus den sogenannten schwarzen Listen von Werbeinhalten entfernen (Blacklisting), transparente Kontrolle über die Wahl der Datennutzung. Zudem wünschen sich Betroffene eine stärkere Moderation der Kommentare bei den Artikeln oder Berichten von Online-Medien. Plattformen sollten verstärkt für transphobe Kommentare sensibilisiert werden und diese unterbinden, um Diskriminierung und die Verbreitung falscher Informationen zu verhindern. Was helfen würde: Wenn mehr queere Menschen in der Tech-Branche tätig wären. Gary Goldmann kämpft für eine stärkere Vielfalt in der Tech-Branche. «Inklusivere Teams zu haben, würde es ermöglichen, inklusive Tools zu entwickeln, die auf die Bedürfnisse von queeren Menschen zugeschnitten sind.»


* Genderdysphorie ist das Gefühl von Angst, Reizbarkeit oder Hilflosigkeit, das durch den Unterschied zwischen der Art und Weise, wie man sich selbst wahrnimmt, und der Art und Weise, wie man von seinem sozialen Umfeld wahrgenommen wird, entsteht. Genderdysphorie kann sowohl sozial als auch physisch sein.