Dragica Rajčić Holzner
Dragica Rajčić Holzner

MAGAZIN AMNESTY Schweiz Vielsprachige Schweiz?

Von Dragica Rajčić Holzner. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2022.
Die Schriftstellerin Dragica Rajcic Holzner wünscht sich, dass die Mehrsprachigkeit in der Schweiz stärker wertgeschätzt wird und über die Landessprachen hinausgeht.

Januar 2022, Zürich, im Tram Richtung Limmatplatz. Der ältere Mann hebt vorsichtig die Zeitung auf, starrt sie lange an, lässt sie dann sorgfältig gefaltet liegen. Es ist das erste Mal in seinem Kosovarischer- Auswanderer-Bauarbeiter-Leben, dass er seine Muttersprache auf dem Umschlag einer Zeitung in der Schweiz entdeckt hat, die es neu auch in Albanisch gibt. Er lebt und arbeitet wie weitere 260 000 seiner Albanisch sprechenden Landsleute in der Schweiz in einer Dunkelkammer der sprachlichen Unsichtbarkeit. Albanisch war schon im Jugoslawien der 1980er-Jahre nur im «Homeoffice» möglich, in der Schule durfte die Sprache nicht mehr gelernt werden.

Dass Mehrsprachigkeit Wert hätte, wird zwar immer wieder gesagt, aber es bleibt bei einer symbolischen Wertschätzung. Dragica Rajčić Holzner

Und in den Schulen hierzulande? Meine Erfahrung in den Schweizer Schulen, wo ich Schreibkurse gebe, zeigt: Die erste Sprache der Schüler*innen, die zuhause nicht Deutsch reden, spielt im Unterricht überhaupt keine Rolle. Dass Mehrsprachigkeit Wert hätte, wird zwar immer wieder gesagt, aber es bleibt bei einer symbolischen Wertschätzung. Seit der Französischen Revolution ist die Sprache ein Grundrecht der freien Menschen. Auf dem Weg zum Nationalstaat hat sich dies in «ein Land – eine Sprache» entwickelt. Dass die Schweiz in ihrer Verfassung die Sprachenfreiheit verankert hat, ist auf den ersten Blick mehr als lobenswert. Im Bundesgesetz über Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften steht sogar: «Im Verkehr mit Personen, die keine Amtssprache beherrschen, verwenden die Bundesbehörden nach Möglichkeit eine Sprache, welche diese Personen verstehen.»

Aber inzwischen lebt in der Schweiz ein Viertel der Bevölkerung ohne einschlägige Rechte. Denn für diese eingewanderten Menschen gilt der Erwerb der «Landessprache(n)» als Grundvoraussetzung für das Aufenthaltsrecht, die Einbürgerung und damit die Mitsprache. Was einmal als kommunikative Hilfe gedacht war, hat sich binnen kurzem zur Assimilations- und Repressionswaffe entwickelt. Übrigens: Albanisch sprechende Lehrer*innen geben Bundesbeamt*innen gern Albanisch-Unterricht. Bitte melden.