Gerade in Logistikunternehmen, wo alles schnell und doch präzise erledigt werden muss, ist die Überwachung der Mitarbeitenden Alltag. Welche Instrumente in der Schweiz eingesetzt werden, ist bei Klick aufs Bild ersichtlich. © Adrian Sulyok /unsplash
Gerade in Logistikunternehmen, wo alles schnell und doch präzise erledigt werden muss, ist die Überwachung der Mitarbeitenden Alltag. Welche Instrumente in der Schweiz eingesetzt werden, ist bei Klick aufs Bild ersichtlich. © Adrian Sulyok /unsplash

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin März 2022: Digitalisierung Wenn jeder Klick überwacht wird

Von Natalie Wenger. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2022.
Wir werden von Robotern ersetzt, unsere Arbeit künftig von künstlichen Intelligenzen übernommen – davor warnen nicht nur die Gewerkschaften. Doch die Automatisierungskrise hat längst begonnen. Die Roboter sind schon da, mit verheerenden Auswirkungen auf die Rechte der Angestellten.

Die fünfte Corona-Welle überrollte im Winter die Schweiz, und einmal mehr hiess es: Wer kann, soll von zu Hause arbeiten. Während Angestellte zu Beginn der Pandemie an einem winzigen Laptop auf dem Sofa arbeiten mussten, sprechen heute viele Unternehmen Beiträge, um das Homeoffice zu erleichtern: Grössere Monitore werden aufgestellt, Stehpulte installiert.

Doch das Entgegenkommen der Unternehmen hat einen Preis: die Privatsphäre der Angestellten. Laut einer Studie von TOP10VPN, einem britischen Unternehmen für Internetsicherheit, stieg die weltweite Nachfrage nach Programmen zur Überwachung von Mitarbeitenden – sogenannten People Analytics Tools – seit Beginn der Gesundheitskrise um über 65 Prozent (Stand September 2021). Die grössten Anbieter sind Hubstaff, Time Doctor und FlexiSPY. Diese drei Unternehmen decken 60 Prozent des internationalen Marktes ab, der laut Vorhersagen des Marktforschungsinstituts Industry Arc bis 2026 4,5 Milliarden Dollar generieren soll.

Diese Technologien geben den Vorgesetzten viel Macht: Jeder Klick kann registriert, jedes Gespräch mitgehört, jede Nachricht mitgelesen und auf Inhalt, Tonalität und implizierte Haltungen analysiert werden. Time Doctor verspricht, Leerlaufzeiten zu erkennen, und macht deshalb alle paar Minuten Screenshots und Webcam-Fotos, um zu prüfen, ob sich die Arbeitnehmer*innen am Arbeitsplatz befinden. Stellt die Software fest, dass sie untätig sind, werden die Mitarbeitenden aufgefordert, sich ihren Aufgaben zu widmen. Nach vermehrten Phasen der Untätigkeit – etwa wenn Tastatur und Maus 15 Sekunden nicht berührt wurden – werden die Vorgesetzten alarmiert.

Für viele Arbeitnehmer*innen ist diese exzessive Überwachung bereits Realität. Die automatisierten Systeme optimieren Transportrouten, verkürzen Kaffeepausen, bestrafen vermeintliche Ineffizienz. Für die Angestellten bedeutet das vor allem eines: Die Arbeit wird intensiver, stressiger, gefährlicher.

Von Robotern kontrolliert

Das Beispiel des Onlinehändlers Amazon zeigt, wie intensiv die Angestellten in den USA überwacht werden können: Die Fahrzeuge des Unternehmens werden mit einer vierteiligen Kamera ausgestattet, die aufzeichnet, ob die Fahrer*innen abgelenkt sind, zu schnell fahren oder sogar gähnen. Die Roboterkameras können aktiv auf Fehlverhalten hinweisen: «Langsamer fahren!» oder «Sicherheitsabstand einhalten», plärrt es dann aus dem Gerät. Das System erlaubt eine pausenlose Bewertung der Mitarbeitenden, welche in regelmässigen Abständen vom Management eingesehen wird. Wer vom Algorithmus schlecht bewertet wird, dem droht die Kündigung.

Im Idealfall würde ein Mensch das Video überprüfen und könnte so die Fahrer*innen entlasten, doch das geschieht selten. Amazon rechtfertigt den Einsatz der Technologien gegenüber der «Washington Post» damit, dass sie zur Sicherheit und zur Effizienz beitrügen. Doch viele Fahrer*innen klagen aufgrund des Stresses über Rückenschmerzen, Herzrasen, Burn-out-Symptome. Hunderttausende begannen, sich gegen die Überwachungskultur zu wehren, in Minnesota streikte die Belegschaft 2019 sogar. Sie würden zu gefährlich schnellen Fahrten gezwungen und hätten nicht mal Zeit für Toilettenpausen. Um die Maschine zufriedenzustellen, müssten sie selbst zu Maschinen werden, skandierten die Arbeiter*innen. Ihr Slogan: «Wir sind keine Roboter.»

Eine solch exzessive Überwachung wäre laut Roger Rudolph, Professor für Arbeits- und Privatrecht an der Universität Zürich, hierzulande ausgeschlossen. «Systematische Verhaltensüberwachungen am Arbeitsplatz sind in der Schweiz gemäss dem Arbeitsgesetz verboten», sagt er. Die Überwachungsmassnahme müsse zwingend in direktem Bezug zum Arbeitsverhältnis stehen, verhältnismässig und erforderlich sein. «Je intensiver die Überwachung ist, desto kritischer wird sie betrachtet», sagt Rudolph. Im Gegensatz zu den USA seien die Schweizer Gerichte sensibilisiert auf die Rechte der Arbeitnehmenden. «Oft wird der Schutz der Privatsphäre höher gewichtet.»

Vermehrte Überwachung in der Schweiz

Trotzdem: Auch in der Schweiz hat die Überwachung am Arbeitsplatz seit Beginn der Pandemie deutlich zugenommen. Zu diesem Schluss kommt der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte des Bundes (EDOEB). Silvia Böhlen, Kommunikationsspezialistin des EDOEB, schreibt auf Anfrage: «Über die Art der eingesetzten Technologien können wir jedoch nichts sagen, da die Fälle nicht systematisch erfasst werden und es keine Meldepflicht für solche Systeme gibt.»

Zahlen: HR Tech Survey 2020. Grafiken: muellerluetolf.ch

Das Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten der Universität St. Gallen hat im Jahr 2020 213 Personalverantwortliche befragt, um genau das herauszufinden. Die Mehrheit der Unternehmen investierte bereits vor der Pandemie in Tools wie Microsoft Teams oder Time Doctor. 63 Prozent der Befragten gaben an, die Technologien bei der Mitarbeiterbindung und der Unternehmenstransformation einzusetzen; ausserdem würden sie im Performance-Management und bei Bewerbungsverfahren angewendet. Laut den Studienautor* innen sind Missbräuche eher selten. Nur 17 Prozent der Unternehmen verwenden Technologien, die eine IT-basierte Zeiterfassung ermöglichen, und 7,5 Prozent nutzen Algorithmen im Bewerbungsprozess. Diese Technologien sind problematisch, da sie Diskriminierung verstärken können – etwa indem Bewerbungen von Personen mit ausländischem Namen systematisch schlechter bewertet werden. Softwares wie Teramind, die Fehlverhalten von Mitarbeitenden, Führungskräften oder dem Management erkennen können und die Produktivität messen, werden von 5 Prozent eingesetzt. Das ist widerrechtlich, da Teramind eine ständige Verhaltenskontrolle ermöglicht, was gegen Schweizer Recht verstösst.

Eine Umfrage von Amnesty International bei 50 Schweizer Unternehmen bestätigt, dass Missbräuche eher selten sind. Knapp 80 Prozent der Unternehmen haben Kameras installiert, die Eingänge, Parkplätze, Tiefgaragen und gefährliche Maschinen und Anlagen überwachen. Als Gründe werden Sicherheitsaspekte, Diebstahlprävention sowie der Schutz vor unberechtigten Zutritten vorgebracht. Zwei Drittel der Unternehmen nutzen People-Analytics-Tools bei der Zeiterfassung, der automatischen Virenalarmierung, der Fernsteuerung oder in Kollaborationssoftwares wie Microsoft Teams. Mehrere Detailhändler gaben an, die Anzahl eingehender und beantworteter E-Mails im Kundenservice zu erfassen, telefonische Beratungs- und Verkaufsgespräche aufzuzeichnen und die Fahrzeugflotten mit GPS-Trackern auszustatten. Zahlreiche Unternehmen lieferten keine detaillierten Informationen – aus Datenschutzgründen.

Alle Unternehmen bekräftigen, dass die Mitarbeitenden per IT-Reglement, im Arbeitsvertrag oder durch das HR über die eingesetzten Technologien informiert würden. Nur ein Unternehmen gibt an, die Zustimmung der Arbeitnehmenden einzuholen – diese ist rechtlich nicht zwingend erforderlich. Ein Versicherer gab an, dass überwachte Zonen mit einem Infokleber markiert würden. Die Einwilligung der Angestellten wird jedoch in den wenigsten Fällen eingeholt – höchstens implizit durch die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags. Bei den Fragen zur Datenspeicherung betonten zwar alle, sich an die gesetzlichen Vorgaben zu halten. Mindestens zwei Unternehmen speichern die Daten jedoch bis zu drei Jahre – eine sehr lange Frist, die den Verdacht aufkommen lässt, dass diese Firmen Daten auf Vorrat speichern.

Zahlen: HR Tech Survey 2020. Grafiken: muellerluetolf.ch

Unternehmen müssen wenig befürchten

Die Schweizer Gerichte beschäftigen vor allem Fälle von IToder Videoüberwachung, sowie vereinzelt Fälle der Überwachung durch Privatdetektive. Rechtsprofessor Roger Rudolph rechnet mit Dutzenden Fällen pro Jahr, konkrete Zahlen zu liefern, sei schwierig, da die wenigsten Fälle vor Gericht endeten. Hinzu kommt, dass die Mitarbeitenden nicht immer merken, dass sie überwacht werden. Und selbst wenn: Nur wenige Angestellte gehen gegen ihre Arbeitgeber*innen vor, aus Angst vor einer Entlassung. Bei einem Verstoss drohen den Unternehmen nur geringe Sanktionen. Es kann maximal eine Entschädigung von bis zu sechs Monatslöhnen und in ganz seltenen Fällen eine Schadensersatzzahlung von wenigen Tausend Franken erreicht werden.

Meist werden nur Fälle vor Gericht gezogen, bei denen eine Kündigung erfolgte. Ein Tessiner Zivilschutzkommandant wurde über drei Monate lang systematisch von seinem Arbeitgeber überwacht – ohne dass er darüber informiert wurde. Zwar konnte der Arbeitgeber ihm so nachweisen, dass er massiv gegen die Arbeitspflicht verstossen hatte – er hatte wiederholt während der Arbeitszeit Pornoseiten besucht. Doch die Beweismittel basierten laut dem Bundesgericht auf unzulässigen Daten, da sie durch eine verborgene Spyware beschafft worden waren, die den Internetverlauf praktisch lückenlos überwachte. Die Entlassung erfolgte daher unrechtmässig. Dem Unternehmen wurde die Dauer der Verhaltensüberwachung zum Verhängnis, meint Roger Rudolph: «Hätte die Überwachung nur einige wenige Tage gedauert, hätte das Gericht allenfalls anders entschieden.»

Die Grenze zwischen berechtigter Arbeitskontrolle und dem Verletzen der Privatsphäre ist schmal. Laut Rechtsexperten, aber auch der Gewerkschaft Unia sind die bestehenden Gesetze in der Schweiz ausreichend. Die Schwierigkeit liege jedoch in deren Anwendung, schreibt Philipp Zimmermann, Mediensprecher der Unia. «Wichtig ist, dass sich Arbeitnehmende nicht alles gefallen lassen, ihre Rechte auf Privatsphäre am Arbeitsplatz ansprechen, sich mit der Gewerkschaft in Verbindung setzen und falls nötig gegen Missbräuche gerichtlich vorgehen.» Klage kann beim zuständigen Zivilgericht oder im Fall einer unerlaubten Verhaltensüberwachung beim kantonalen Arbeitsinspektorat eingereicht werden.

Die Unia steht Überwachungsmassnahmen ablehnend gegenüber, da diese die Machtverhältnisse zugunsten der Unternehmen verschieben würden. «Ständige Überwachung führt zu Stress und Druck, ist ein Ausdruck von Misstrauen und einem angenehmen Arbeitsklima kaum förderlich», schreibt Zimmermann. Mikromanagement hat selten zur Folge, dass die Leistungen sich verbessern. Vielmehr demotiviert es die Angestellten und entfremdet sie von den Arbeitgeber* innen.

Wie freiwillig ist freiwillig?

Nicht immer geschieht die Überwachung gegen den Willen der Arbeitnehmer*innen. So hat ein Fünftel der Belegschaft des Reisekonzerns TUI in Schweden zugestimmt, sich einen reiskorngrossen Mikrochip in die Hand implantieren zu lassen, freiwillig, auf Kosten des Unternehmens. Mit dem Chip lassen sich Türen öffnen, Drucker aktivieren, Snackautomaten bedienen. Alexander Huber, Geschäftsführer von TUI in Stockholm, sagte dem «Spiegel» im Interview, der Chip habe viel bewirkt, etwa Gespräche über neue Technologien ausgelöst. Der Chip erlaube es nicht, die Personen zu orten oder mehr Informationen zu lesen, als im verlinkten Linked-in- Profil angegeben seien.

Das Argument der Freiwilligkeit greift für Roger Rudolph im Arbeitsrecht jedoch zu kurz. «Angestellte sind oft auf ihre Stelle angewiesen und auch bereit, dafür einiges zu geben», sagt er. Die Einwilligung der Arbeitnehmenden sei daher kein genügender Rechtfertigungsgrund für überbordende Überwachungsmassnahmen. Vom Prinzip der Verhältnismässigkeit und dem notwendigen Arbeitsplatzbezug dürfe nicht abgewichen werden. Auch nicht mit der Zustimmung der Arbeitnehmenden. «Manchmal müssen diese vor sich selbst geschützt werden.»