AMNESTY: Die Digitalisierung der Gesellschaft geht rasant vorwärts. Wie stark beeinflusst sie unsere politische Meinungsbildung?
Fabrizio Gilardi: Die sozialen Medien ermöglichen es potenziell allen Menschen, sich einzubringen und Einfluss auf politische Debatten zu nehmen. Es kommen Menschen zu Wort, die vorher keine Kanäle hatten, sich Gehör zu verschaffen. Das ist auch aus menschenrechtlicher Perspektive wichtig. In vielen Ländern bieten diese Kanäle Aktivist*innen einen Weg, um sich äussern zu können – auch gegen Regierungen.
Wird durch den erleichterten Zugang die politische Debatte also demokratischer?
Die sozialen Medien lassen die Vielfalt der Information zunehmen. Früher hatten die traditionellen «Gatekeepers» – also Zeitungen, Fernsehen und Radio – viel stärker die Kontrolle darüber, was publiziert wird. In den sozialen Medien erfährt man durch die vielen Verlinkungen auch von Perspektiven und Meinungen, nach denen man gar nicht gesucht hat. Auch wenn die Rolle der sozialen Medien nicht überbewertet werden sollte, so hat dies doch Auswirkungen. Was beispielsweise auf Twitter publiziert wird, kann rasch eine breite Öffentlichkeit erreichen. So kann sich auch Desinformation schnell verbreiten.
Desinformation gibt es nicht erst, seit die sozialen Medien aufkamen, auch die traditionellen Medien verbreiten Fake News. Fabrizio Gilardi, Professor für Policy Analyse an der Universität Zürich
Auf den sozialen Medien können Inhalte praktisch ohne Einschränkung veröffentlicht werden – Stichwort Fake News. Wie gefährlich ist dies für die politische Meinungsbildung?
Diese Frage muss je nach Social-Media-Kanal unterschiedlich beantwortet werden. Einige Kanäle sind offen, zum Beispiel Twitter. Andere Kanäle wie Telegram sind relativ geschlossen. Auch in der Schweiz finden viele Diskussionen auf verschlüsselten Kanälen statt. Man müsste also undercover in diese Chats reingehen, um sie zu analysieren – was aus wissenschaftlicher Sicht ethische Fragen aufwirft. Desinformation gibt es nicht erst, seit die sozialen Medien aufkamen, auch die traditionellen Medien verbreiten Fake News. Die Folgen sind derzeit in den USA bei Fox News oder Breitbart deutlich sichtbar. Gleichzeitig existiert die Vorstellung, dass die Desinformation hauptsächlich durch sogenannte Trolle in Osteuropa gesteuert wird. Das kommt vor, aber Desinformation wird auch von den eigenen politischen Eliten verbreitet, auch via traditionelle Medien.
Sie sprechen die Eliten an: Wie aktiv versuchen hierzulande Parteien und Verbände auf den sozialen Medien die Leute gezielter abzuholen und mittels einer individualisierten Sprache besser beeinflussen zu können?
Diese Methoden werden zwar genutzt, mein Eindruck ist jedoch, dass dies nur auf rudimentäre Art gemacht wird. Vielleicht aus guten Gründen. Es ist nämlich überhaupt nicht klar, wie wirksam diese sogenannten Mikro-Targeting-Strategien tatsächlich sind und ob sich damit tatsächlich viele Leute gewinnen lassen. Hinzu kommt: Die Forschung zu politischer Werbung hat gezeigt, dass Meinungen – insbesondere politische Meinungen – nur schwer zu beeinflussen sind. Für das Mikro-Targeting werden Unmengen an Daten gesammelt, um Profile zu erstellen und Menschen zu identifizieren, die für gewisse Botschaften anfällig sein könnten. Es gibt jedoch vermehrt Berichte, die aufzeigen, dass Firmen wie Facebook und Google die Wirksamkeit ihrer Produkte übertrieben positiv darstellen, weil sie diese Produkte verkaufen wollen. Deren tatsächliche Wirksamkeit ist für Externe nur schwer zu eruieren. Ausserdem reichen meistens schon grobe Faktoren wie Wohnort, Bildungsstatus und Einkommen, um das Wahlverhalten einer Person vorherzusagen.
Eine Studie zur Digitalisierung der Schweizer Politik kam 2021 zum Schluss, dass die Schweizer Stimmbevölkerung eine relativ hohe Resistenz gegenüber zweifelhaften Informationen hat. Doch kam es gerade während der Covid-Pandemie auch hierzulande zu einer Radikalisierung gewisser Kreise, die sich in Verschwörungsblasen bewegen.
Solche Randmeinungen werden durch die Debatten auf den sozialen Medien einfach sichtbarer. Aber es geht um kleine Minderheiten, die breite Bevölkerung ist nicht anfällig für Verschwörungstheorien. Im Übrigen bewegen wir uns alle in Blasen, einfach offline, bei der Arbeit, im Freundeskreis. Wer aber für Verschwörungstheorien anfällig ist, kann im Internet leicht entsprechende Informationen finden und trifft dort auf Menschen, die ähnlich ticken. Das kann eine Radikalisierung beschleunigen, darin sehe ich tatsächlich eine Gefahr.
Gesetze mit schwammigen Definitionen von Fake News Sind für Missbräuche durch die Regierung prädestiniert: Informationen, die den Regierungen missfallen, werden dann einfach als Fake News bezeichnet.Fabrizio Gilardi
In verschiedenen Ländern gibt es Bestrebungen, die Social-Media-Unternehmen auf gesetzlichem Weg dazu zu verpflichten, Fake News auf ihren Plattformen zu verhindern.
Das Problem liegt insbesondere an der Masse der Nachrichten, die jede Minute gepostet werden. Es braucht zunächst Verfahren, um Falschinformationen als solche zu identifizieren. Es gibt eine riesige Grauzone von Nachrichten, die zwar dubios sind, bei denen aber schwierig zu bestimmen ist, ob es sich um Fake News handelt oder nicht. Eine Definition von Fake News und eine gemeinsame Position dazu zu finden, ist die grosse Herausforderung. Das ist einer der Gründe dafür, dass sich die Plattformen nicht stärker engagieren. Aber natürlich generieren solche Nachrichten auch mehr Klicks und Einnahmen. Alle sind sich einig, dass manche Inhalte problematisch sind. Doch welche sollen gesperrt werden und wer soll das tun? Es geht ja auch um die Meinungsfreiheit. Wir sehen in weniger demokratischen Ländern, dass Gesetze mit schwammigen Definitionen von Fake News für Missbräuche durch die Regierung prädestiniert sind: Informationen, die den Regierungen missfallen, werden dann einfach als Fake News bezeichnet. Sollen also die Regierungen die Macht haben zu entscheiden, was in der digitalen Öffentlichkeit gesagt werden darf? Oder sollen das die Plattformen selbst bestimmen?
Welche Forderung haben Sie an die Schweizer Politik für den Umgang mit den grossen Plattformanbietern, die ja auch in der Schweiz eine immense Marktmacht haben?
Die Schweiz allein hat einen begrenzten Spielraum. Ich würde mir wünschen, dass sie die Bemühungen auf EU-Ebene und in den USA aktiver unterstützt, statt nach eigenen Lösungen zu suchen, vor allem wenn es um die Schaffung von Transparenz geht. Denn aus meiner Perspektive ist dies die Hauptforderung an die Unternehmen: mehr Transparenz. Wir müssen mehr darüber wissen, wie die Plattformen funktionieren und was mit den Daten der Nutzer*innen tatsächlich geschieht. Diese Transparenz muss aber mit dem Datenschutz einhergehen, was es kompliziert macht. Der Datenschutz lieferte den Unternehmen in den letzten Jahren die Argumente – zum Teil auch die Ausrede – , um noch intransparenter zu werden. Transparenz ist aber zentral, um die Probleme angehen und verstehen zu können, denn: Ohne richtige Diagnose kann man keine wirksame Therapie entwickeln.