Der Fluss Cahabón ist die Lebensader der Q'eqchi'-Gemeinschaft in Guatemala. Doch er ist zunehmend gefährdet. © Keystone / HEMIS / GUIZIOU Franck
Der Fluss Cahabón ist die Lebensader der Q'eqchi'-Gemeinschaft in Guatemala. Doch er ist zunehmend gefährdet. © Keystone / HEMIS / GUIZIOU Franck

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2022: Wasser Der Kapitän des Cahabón

Von Olalla Piñeiro Trigo. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2022.
Bernardo Caal Xol wurde inhaftiert, weil er sich für die Maya-Gemeinschaft der Q'eqchi' einsetzt und gegen den Bau eines Wasserkraftwerks in Guatemala protestierte. Vor kurzem kam der Umweltaktivist frei.

«Ich habe im Cahabón gebadet. Mein Körper und mein Geist brauchten dies, um heilen zu können», sagt Bernardo Caal Xol auf die Frage, wie er seine Entlassung aus dem Gefängnis gefeiert habe. Die Haft war für den 50-jährigen guatemaltekischen Aktivisten sehr hart gewesen: «Die Zelle war überfüllt, die Hitze drückend. Wegen der Pandemie durfte ich acht Monate lang nicht an die frische Luft. Mein Bett war mein Lebensraum.»

Bernardo ist müde, er braucht Erholung. Trotzdem sagt er zu einem Interview um vier Uhr morgens zu. «In unserer Gemeinde stehen wir sogar noch früher auf, wir sind daran gewöhnt», sagt seine Lebensgefährtin Isabel Matzir, die ebenfalls Aktivistin ist. Die beiden sind Teil der Gemeinschaft der Maya Q'eqchi', einer indigenen Bevölkerungsgruppe Guatemalas, die hauptsächlich im Zentrum des Landes lebt. Weil Bernardo sich für die Rechte seiner Gemeinschaft einsetzte, wurde der Lehrer und Vater von zwei Teenagern zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Vier Jahre verbrachte er hinter Gittern. Am 24. März wurde er wegen «guter Führung» freigelassen, die gegen ihn erhobenen Anklagen bestehen jedoch weiterhin.

Bernardo hatte gegen den Bau von zwei Kraftwerken des Oxec-Wasserkraftprojekts an einem Nebenfluss des Cahabón protestiert. Der 196 Kilometer lange Fluss, der durch das Gebiet der Q'eqchi' fliesst, ist in der Maya-Religion heilig. Aber er ist mehr als das: «Wir sind stark vom Cahabón abhängig. Da immer mehr Unternehmen das Wasser des Flusses abpumpen und seinen Lauf umleiten, wird das Ökosystem beeinträchtigt. Ganze Dörfer sind ohne Wasser.»

Aktivismus im Blut

Bernardo wuchs in den bewaldeten Bergen von Alta Verapaz inmitten von Maisfeldern auf. Die Liebe zur Natur und das Wissen um die lebenswichtige Rolle des Wassers wurden ihm schon als Kind mitgegeben. «Meine Familie hat mir den Respekt für die Natur vermittelt. Eines Tages schnitt sich meine Mutter bei der Arbeit und heilte die Verletzung mit einer auf die Wunde geriebenen Pflanze.»

Bernardo engagiert sich nicht nur für die Umwelt, sondern auch für soziale Gerechtigkeit. Als Enkel bescheidener Kaffeebäuer*innen, die weder lesen noch schreiben konnten, wuchs er in einer Umgebung auf, in der Schulen, Strassen und Elektrizität selten oder gar nicht vorhanden waren. Die Zahlen des Nationalen Statistikinstituts (INE) zeigen: Alta Verapaz ist der Bezirk Guatemalas, der am stärksten von Armut betroffen ist. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben in prekären Verhältnissen, mehr als die Hälfte ist von extremer Armut betroffen. Nur 27 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. «Wir werden von der Politik im Stich gelassen und sind mit sozialer Ausgrenzung sowie staatlichem Rassismus konfrontiert, der ein Erbe der Kolonialzeit ist», sagt Bernardo.

Bereits während seines Lehramtsstudiums in Cobán, der Hauptstadt der Region, engagierte er sich für soziale Anliegen. Während dieser Zeit nahm er an Schulungen zu Menschenrechten und kollektiven Kämpfen teil, wo er seine Frau Isabel kennenlernte. Sie sei ihm sofort aufgefallen, erzählt er. Isabel fand in Bernardo einen Verbündeten im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten. «Wir Maya sind ein unsichtbar gemachtes Volk. Unsere Rechte werden ignoriert, und diejenigen, die protestieren, werden verfolgt oder ermordet», sagt sie. «Der Widerstand unserer Vorfahren gegen die Kolonialisierung hat uns diesen Kampfgeist eingeimpft. Um nicht tatenlos zuzusehen, bilden wir uns selbst weiter.»

Nach seiner Rückkehr in die Gemeinde Santa María Cahabón nahm Bernardo mehrere Veränderungen vor: Als er 25 Jahre alt wurde, gründete er eine Schule. Ausserdem erreichte er es, dass Strassen gebaut wurden, um Transporte zu erleichtern, und dass sauberes Wasser in die Haushalte geführt wurde. Nach und nach wird er zur Stimme der Q'eqchi'-Gemeinde, wobei er auch ins Rampenlicht rückt, weil er Spanisch spricht. «Viele Menschen hier sprechen kein Spanisch. Aber diese Sprache ist unerlässlich, um unsere Forderungen vorzutragen und bei den Behörden Erfolg zu haben», sagt Bernardo.

Die Weigerung zu schweigen

So überrascht es nicht, dass Bernardo 2015 bei den Protesten gegen das Unternehmen Oxec an vorderster Front stand: Das Unternehmen liess für zwei Staudämme 15 Hektaren Wald abholzen und hatte zuvor die betroffenen indigenen Gemeinschaften nicht konsultiert, obwohl es dies gemäss der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz indigener Völker hätte tun müssen. «Ein Unternehmen siedelt sich auf Land an, das ihm nicht gehört, ohne die Menschen zu fragen, die von seinen Aktivitäten betroffen sind», kritisiert Bernardo. Er klagte gegen das Unternehmen und erhielt Recht: Die Gerichte stellten fest, dass die Gemeinden nicht ordnungsgemäss konsultiert worden waren, erlaubten aber die Fortsetzung des Projekts. Entschlossen, sich Gehör zu verschaffen, führten 195 Gemeinden 2017 ihre eigene Konsultation durch, bei der 26 537 Menschen das Projekt ablehnten und nur 12 dafür stimmten. Um ihre Unterstützung zu gewinnen, hat die Firma nicht nur einigen Gemeinden jährliche Zahlungen zugesagt, sondern auch finanzielle Unterstützung für den Bau von Schulen, Kirchen und Krankenhäusern. Als Gegenleistung verlangte Oxec, dass das Projekt nicht weiter behindert werde. «Das Unternehmen nutzt Korruption und Armut für seine Geschäfte aus. Es ersetzt den Staat, indem es der Bevölkerung Infrastruktur anbietet.»

«Wir werden von der Politik im Stich gelassen und sind mit sozialer Ausgrenzung sowie staatlichem Rassismus konfrontiert.»Bernardo Caal Xol

Durch die Proteste, Einsprüche und Treffen mit den Medien wurde Bernardo zum Störfaktor. Er wurde zwar nicht direkt bedroht, blieb aber von öffentlichen Verleumdungskampagnen und Einschüchterungen nicht verschont: Überall wurden Flyer mit seinem Bild ausgehängt, ein Foto seines Hauses in sozialen Netzwerken verbreitet. Und er verlor seine Stelle als Lehrer.

Ende 2018 wurde Bernardo verhaftet. Man beschuldigte ihn, Baumaterial gestohlen und vier Mitarbeiter eines Subunternehmers angegriffen zu haben. Anschuldigungen, die Bernardo bestreitet: «Ich wurde für ein Verbrechen inhaftiert, das ich nicht begangen habe.» Die Repression gegen Menschenrechtsverteidiger* innen ist in Lateinamerika gross, allein in Guatemala verzeichnete die NGO Global Witness für 2021 1004 Angriffe, 15 Morde und 22 Mordversuche.

Keine Kapitulation

Bernardo liess sich durch das Gefängnis nicht beirren. Er verbrachte die vier Jahre damit, sich weiterzubilden und Briefe zu schreiben, um die Ungerechtigkeit, die er erlebte, anzuprangern. Seine Familie und seine Freund*innen teilten diese Briefe in sozialen Netzwerken. Dank dieser Beharrlichkeit und des Engagements seiner Gemeinschaft fand sein Fall auch ausserhalb Guatemalas Gehör: Amnesty International anerkannte ihn als Gewissensgefangenen, Greenpeace prangerte den unfairen Prozess an.

Bernardo ist nun frei und beschäftigt sich mit seiner Familie, seiner Therapie und Arztterminen, um einen Leistenbruch zu behandeln. Bevor er nach einer neuen Stelle sucht, möchte er sich Zeit nehmen, um dem Gesang der Vögel zu lauschen, die frische Bergluft zu atmen und die Flüsse des riesigen Q'eqchi'-Gebiets zu besuchen. Seine Inhaftierung hat ihn nicht aufgeben lassen, sondern seine Überzeugungen weiter gestärkt, auch wenn er den Bau der beiden Wasserkraftwerke nicht verhindern konnte. Die erforderlichen Baugenehmigungen wurden nämlich erteilt. Der Menschenrechtsverteidiger plant, durch seine Gemeinde zu reisen, um seine Geschichte und die des Cahabón zu erzählen. Denn er ist nicht bereit zu schweigen.