Der ehemalige Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, Prof. Michael Lynk , vor der Uno. © UN
Der ehemalige Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, Prof. Michael Lynk , vor der Uno. © UN

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2022: Wasser Die Besatzungsmacht trägt die Verantwortung

Interview von Manuela Reimann Graf. Erschienen begleitend zum «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2022.
Für den ehemaligen Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, Prof. Michael Lynk ist klar: Die Verantwortung für eine ausreichende, gerechte Wasserversorgung in den besetzten Gebieten liegt bei Israel. Die internationale Gemeinschaft beharre nicht auf die Einhaltung des Völkerrechts und mache sich damit mitschuldig.
AMNESTY-Magazin: Die Wasserkrise in den besetzten palästinensischen Gebieten ist kein Problem des Wassermangels, sondern der Besatzung: Die eine Seite – Israel – hat kompletten Zugang zum Wasser, die andere – die Palästinenser*innen – nicht. Wie ist diese Situation mit dem Völkerrecht vereinbar?

Michael Lynk: Sie ist nicht mit dem Völkerrecht vereinbar. In den 1990er Jahren wurden zwischen den Palästinenser*innen und Israel Interimsabkommen über die Massnahmen zur Verwaltung der Besatzung unterzeichnet; dies für die kurze Zeit, bis die Palästionenser*innen die Selbstbestimmung erreicht haben würden. Auch die Massnahmen zur Wasserverwaltung waren nur für eine Interimsperiode gedacht – eine Übergangslösung bis die Palästinenser*innen die Freiheit erlangt hätten. Doch diese kam nie. Und sie scheint nie weiter weg gewesen zu sein.

Die Abkommen der 1990er- und 2000er-Jahre waren von Anfang an unausgewogen. Die Palästinenser*innen verhandelten während des Oslo-Prozesses aus einer sehr schwachen Position heraus. Aber wahrscheinlich dachten sie, dass sie mit der Vorläufigkeit der Ungleichheit leben könnten, bis sie in naher Zukunft die volle Selbstbestimmung erlangen würden.

«Das Völkerrecht sagt es ganz klar: Eines der grundlegenden Attribute der Souveränität ist das Recht, über die Nutzung seiner eigenen natürlichen Ressourcen entscheiden zu können.»

Mit den israelisch-palästinensischen Vereinbarungen über die Wasserverteilung und der Einrichtung eines gemeinsamen Wasser-Ausschusses wurden die Palästinenser*innen in eine ungerechtes System gedrängt, Man ging nie nie davon aus, dass es ganze 30 Jahre andauern wird – ein klarer Verstoss gegen das Völkerrecht.

Vereinbarungen zwischen Parteien dürfen nicht gegen das Völkerrecht verstossen, das Völkerrecht sagt es ganz klar – und es wird jedes Jahr in den von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Resolutionen wiederholt: Eines der grundlegenden Attribute der Souveränität eines Volkes, ist das Recht, frei über die Nutzung der eigenen natürlichen Ressourcen entscheiden zu können. Und zwei der wichtigsten Ressourcen, die die Palästinenser*innen haben, sind Land – die wichtigste Ressource – und Wasser.

Aber die Palästinenser*innen haben aufgrund der Besatzung diese Souveränität nicht – weder über ihr Land noch über das Wasser. Welche Rechte und Pflichten hat die Besatzungsmacht in Bezug auf die natürlichen Ressourcen?

Eine Besatzungsmacht ist nur berechtigt, die natürlichen Ressourcen des von ihr besetzten Gebiets in sehr begrenztem Umfang zu nutzen, um die militärische Verwaltung während der vorübergehenden, kurzzeitigen Besetzung aufrechtzuerhalten. Andernfalls hat die Besatzungsmacht die rechtliche Verantwortung, die natürlichen Ressourcen des besetzten Gebiets zu schützen – sie muss sicherstellen, dass die besetzte Bevölkerung nach Beendigung der Besatzung und bei Wiederherstellung der Souveränität vollen Zugang zu ihren Ressourcen erhält.

Das Letzte, was aus einer Besatzung werden soll, ist eine dauerhafte Besatzung – das ist ein Widerspruch in sich. Eine dauerhafte Besatzung ist ein schwerer Verstoss gegen das Völkerrecht. Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass genau dies in den besetzten palästinensischen Gebieten geschieht, und zwar auf der Grundlage der nachprüfbaren Beweise, die uns vorliegen.

Die 300 israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten (inklusive Ost-Jerusalem), mit 700’000 israelischen Zivilist*innen sind nicht da, um Israel Sicherheit zu geben oder das Ende der Besatzung zu beschleunigen. Ganz im Gegenteil. Sie sind dazu da, die israelische Flagge zu hissen und eine dauerhafte israelische Herrschaft zu errichten. Die Annexion von besetztem Gebiet durch die Besatzungsmacht ist ein grober Verstoss gegen das moderne Völkerrecht, wie der UN-Sicherheitsrat bei vielen Gelegenheiten bekräftigt hat. Die Resolution 2334 (Dezember 2016) bekräftigt den grundlegenden Rechtsgrundsatz der «Unzulässigkeit der Aneignung von Territorium durch Gewalt».

Am schlimmsten sind die Lebensbedingungen im Gazastreifen, wo die Menschen nicht genug Trinkwasser bekommen und krank werden. Das ist auch ein Verstoss gegen das Recht auf Gesundheit. Wer trägt in Ihren Augen die Verantwortung dafür? Die Hamas-Regierung, die die Menschen nicht mit genügend Trinkwasser versorgt? Oder liegt sie immer noch bei Israel?

Der Gazastreifen ist nach der derzeitigen Ansicht der internationalen Gemeinschaft immer noch besetztes Gebiet – und ich stimme dem zu. Dies bekräftigt die Resolution des Uno-Sicherheitsrates, die im Januar 2009 verabschiedet wurde. Daher trägt Israel nach wie vor eine gewisse Verantwortung für die Geschehnisse in Gaza. Vor allem, weil es durch seine umfassende Luft-, See- und Landblockade des Gazastreifens immer noch als eine Art externe Besatzungsmacht agiert.

Die Möglichkeit eines ausreichenden Zugangs zu den Wasserressourcen hängt davon ab, dass Israel die Ausrüstung für den Bau und den Betrieb von Entsalzungs- und Kläranlagen in den Gazastreifen lässt. Es liegt auch in der Verantwortung Israels, dafür zu sorgen, dass der Gazastreifen ausreichend Strom hat, damit diese rund um die Uhr arbeiten können – was er nicht tut. Das bedeutet, dass die Abwässer bei einem Stromausfall nicht in den Kläranlagen behandelt werden, sondern ins Mittelmeer geleitet werden, und dann in das Grundwasser unter Gaza zurückfliessen und es verseuchen. Kürzlich erhielten wir die gute Nachricht, dass die Kläranlagen im Gazastreifen nun funktionieren und die Abwässer im Mittelmeer neben dem Gazastreifen so sauber sind wie seit langem nicht mehr.

In dieser Hinsicht trägt Israel die Hauptverantwortung für das Wohlergehen des Gazastreifens. Die internationale Gemeinschaft trägt ebenfalls Verantwortung, insbesondere weil die Vereinten Nationen erklärt haben, dass die Palästina-Frage eine ständige Aufgabe der Uno bleibt, bis sie in all ihren Aspekten gerecht gelöst ist. Die internationale Gemeinschaft hat zwar in den letzten Jahren die Palästinenser*innen in Gaza beim Bau und Betrieb von Entsalzungsanlagen und Kläranlagen unterstützt. Aber das deckt derzeit nur einen Teil des erheblichen Wasserbedarfs der Palästinenser*innen in Gaza.

Ja, die Hamas hat eine Verantwortung gegenüber den Menschen im Gazastreifen – sie hat im Gazastreifen de facto die Macht inne. Aber ihre Fähigkeit, die Wasserkrise in Gaza wirksam zu bewältigen, übersteigt ihre finanziellen und administrativen Möglichkeiten. Deshalb bleibt die Hauptverantwortung weiterhin bei Israel als Besatzungsmacht – und bei der internationalen Gemeinschaft.

Die israelische Regierung weist jegliche Verantwortung für die Wasserkrise zurück und argumentiert, dass viele Milliarden an internationaler Hilfe ins Westjordanland und den Gazastreifen geflossen seien. Der Wassermangel sei das Problem der palästinensischen Autonomiebehörde und der Hamas, vor allem wegen der Korruption: Anstatt die benötigte Wasserinfrastruktur zu bauen, würden sie die Spenden in ihre eigenen Taschen stecken. Die israelische Seite gibt den Palästinenser*innen auch die Schuld daran, dass so viel Wasser durch kaputte Rohre verloren geht und diese nicht repariert werden.

Wenn die Wasserversorgung veraltet ist, die Wasserpumpsysteme unzurreichend sind  oder wenn es undichte oder gar keine Leitungen gibt, dann liegt das in der Verantwortung der Besatzungsmacht. Ja, die Palästinensische Autonomiebehörde hat in Teilen des Westjordanlandes die kommunale Zuständigkeit für eine Reihe von palästinensischen Städten und Gemeinden. Aber das ist weder rechtlich noch praktisch ein Ersatz dafür, dass die israelische Regierung ihrer Verantwortung für die Bereitstellung der erforderlichen öffentlichen Dienstleistungen für die Palästinenser*innen nachkommt.

Die israelische Regierung baut Wasserleitungen, um israelische Siedlungen zu versorgen. Sie versorgt ihre 300 Siedlungen in Ost-Jerusalem und im Westjordanland mit Strom und Versorgungsleistungen – und diese Siedlungen sind nach internationalem Recht zutiefst illegal. Wenn Israel dazu in der Lage ist, kann es auch seiner gesetzlichen Verpflichtung nachkommen, die palästinensischen Städte, Dörfer und ländlichen Gebiete unter ihrer Gerichtsbarkeit zu versorgen.

Also auch in den A- und B-Gebieten, wo die palästinensischen Behörden für das Wohlergehen der Bevölkerung zuständig ist?


Ja. Es liegt in der Verantwortung der Besatzungsmacht, die Besatzung im besten Interesse der besetzten Bevölkerung zu verwalten und die Sicherheit für die kurze Zeit bis zur vollständigen Beendigung der Besatzung zu gewährleisten. Aber dies ist ja keine kurze Besatzung. Es handelt sich um die längste Besatzung in der modernen Welt, und sie hat damit die Schwelle zur Illegalität überschritten.

Das entbindet den israelischen Staat erst recht nicht von seiner gesetzlichen Verantwortung, für das Wohlergehen der Bevölkerung unter der Besatzung zu sorgen, einschliesslich der Garantie, dass die Palästinenser*innenZugang zu Strom, Versorgungseinrichtungen und anständigen Strassen haben – und dass sie Zugang zu sauberem Trinkwasser und kommerziell nutzbarem Wasser kriegen.

Wie kann die internationale Gemeinschaft helfen und die Wasserversorgung der palästinensischen Bevölkerung verbessern – vor allem im Gazastreifen?


Sie sollten zwei Dinge tun. Zum einen sollten sie einspringen und die vielen Lücken füllen, wo Israel nicht für die Bevölkerung unter der Besatzung sorgt. In der Tat ist dies eine weitgehend kostenfreie Besetzung für Israel. Normalerweise wären alle Kosten von der Besatzungsmacht zu tragen. Stattdessen war Israel in der Lage, das meiste davon (Bildung der Palästinenser, Versorgungsleistungen und natürliche Ressourcen für die Palästinenser) an die internationale Gemeinschaft zu übertragen, ohne dass die internationale Gemeinschaft darauf bestand, dass es Israels Verantwortung ist, die Besatzung so bald wie möglich zu beenden.

Der zweite Punkt ist die grössere Frage: die Beendigung der Besatzung. Diese Fragen würden nicht immer wieder auftauchen, wenn die Besatzung in voller Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und den Uno-Resolutionen zu diesem Thema beendet würde.

Welche Art von Lösung sehen Sie?

Vor 42 Jahren, im Juni 1980, 13 Jahre nach Beginn der Besatzung, verabschiedete der Uno-Sicherheitsrat die Resolution 476. Darin wurden zwei Dinge festgehalen, die auch heute noch wichtig sind: Erstens: Es besteht die zwingende Notwendigkeit, die lang andauernde Besatzung zu beenden. Das sagte der Sicherheit damals, nach 13 Jahren Besatzung. 

Und zweitens kritisierte er Israel scharf dafür, dass es die Resolutionen des Sicherheitsrates und der Generalversammlung in Bezug auf die Besatzung nicht einhält. Inzwischen ist die Besatzung 55 Jahre alt, und sie ist gefestigter und dauerhafter denn je.

«Wenn es einem Mitglied der internationalen Gemeinschaft erlaubt ist, sich nicht an die Resolutionen oder das Völkerrecht zu halten, dann bedeutet dies, dass die internationale Gemeinschaft selbst sich nicht an die Regeln hält.»

Artikel 25 der Charta der Vereinten Nationen von 1945 besagt, dass alle Mitglieder alle Beschlüsse des Sicherheitsrates befolgen müssen. Und der Sicherheitsrat hat Israel wegen Nichteinhaltung dieser Verpflichtung gerügt. Es ist eine bemerkenswerte Passivität der internationalen Gemeinschaft, dass sie Israel nicht für die Schaffung einer Besatzung, die nicht mehr von Apartheid zu unterscheiden ist, stärker angeht - wie auch für die Nichtbefolgung der Uno-Resolutionen, die die Beendigung der Besatzung und der verschiedenen Menschenrechtsverletzungen und humanitären Verstösse fordern.

Wenn es einem Mitglied der internationalen Gemeinschaft erlaubt ist, sich nicht an die Resolutionen oder das Völkerrecht zu halten, dann bedeutet dies, dass die internationale Gemeinschaft selbst sich nicht an die Regeln hält.

Das klingt ziemlich pessimistisch. Sehen Sie einen Lichtblick für die Rechte der Palästinenser*innen?


Ich bin von Natur aus ein Optimist. Ich hätte nicht sechs Jahre lang als Sonderberichterstatter gearbeitet, wenn ich kein Optimist wäre. Ich glaube an die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte in unser aller Leben und an die Notwendigkeit einer auf Regeln basierenden internationalen Ordnung.

Ich bin zuversichtlich, dass wir weiterhin den politischen und diplomatischen Autoritäten das überzeugende Argument vorbringen müssen, dass sie ihre eigenen Gesetze und ihre eigenen Resolutionen befolgen müssen. Sie werden letztendlich gezwungen sein , die notwendigen politischen, moralischen und diplomatischen Schritte zu unternehmen, um die Beziehungen zu Israel zu beenden, bis Israel sich wieder an das internationale Recht hält.

Professor S. Michael Lynk (Kanada) war von 2016 bis April 2022 Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten. Prof. Michael Lynk ist ausserordentlicher Professor für Recht an der Western University in London, Ontario, wo er Arbeitsrecht, Verfassungsrecht und Menschenrechte lehrt.