Er ist Anarchist und Pazifist und zählt zu den prominentesten russischen KremlKritiker*innen. Artemy Troitsky ist für seine Frechheit und Schärfe bekannt. Der Journalist und Musikkritiker schreibt Bücher, spielt in Filmen mit, und seine Radiosendungen sind von zynischem Humor geprägt. Als Russland 2014 die Krim annektierte und in der Ostukraine einmarschierte, verliessen er und seine Familie Russland aus Protest. Heute leben die Troitskys in der estnischen Hauptstadt Tallinn und gehen dort gegen den Ukrainekrieg auf die Strasse. «Wir wollten nicht, dass unsere Kinder in einem autoritären Russland aufwachsen», sagt der 66Jährige.
Voller Abscheu spricht Troitsky über die zunehmende Militarisierung Russlands. Es sei Wladimir Putin gewesen, der den zweiten Tschetschenienkrieg provoziert habe, 2008 in Georgien ein marschiert sei, vor acht Jahren die Krim annektiert habe und heute die Ukraine zerlegen wolle. «Ich hasse den Krieg und den Kremlchef», sagt Troitsky. Als «absoluter Kosmopolit» wehre er sich gegen die nationalistische Rhetorik des Kremls. Er lehne die Ideologien der Orthodoxie und den Panslawismus ab, «ein Schrecken, der immer wieder in starken Tönen im heutigen Russland anklingt».
Seit Putin vor mehr als 20 Jahren an die Macht kam, wurde die Meinungsfreiheit immer stärker missachtet und die staatliche Zensur zunehmend verschärft. «Die Korruption in den Behörden, Kritik an Putin, Recherchen über sein Vermögen und das seines Umfelds sind nach wie vor Tabuthemen», sagt Troitsky, der in den 1990er-Jahren ein prominenter Fernseh und Radiomoderator war. Er war ausserdem der erste Redaktor des russischen «Playboys» und Autor der «Nowaja Gaseta», einer der wenigen unabhängigen Zeitungen in Russland, die ihre Arbeit heute ebenfalls aus dem Exil machen muss. Im estnischen Exil spricht er unter anderem im Fernsehsender ARU TV, um die repressive Politik der Regierung Putin und deren Menschenrechtsverletzungen sowohl in Russland als auch im verbündeten Belarus zu kritisieren.
«Das Regime in Moskau hat verstanden, dass Musik eine revolutionäre Rolle spielt.» Artemy Troitsky
Scharfe Zensur
Der Umgang mit Musik zeige beispielhaft, wie scharf die Zensur in Russland sei: «Das Regime in Moskau hat verstanden, dass Musik eine revolutionäre Rolle spielt», sagt Troitsky. Also verbiete der Kreml alles, was nicht genehm sei, und bestimme über die Musik – wie bereits zu Zeiten der UdSSR, als Lieder über Patriotismus, den Sieg der Roten Armee im 2. Weltkrieg, die Kommunistische Partei und ihren Anführer Wladimir Lenin im Chor gesungen wurden. Heute würden in Russland Lieder über Putin gesungen. Dabei gingen manche Interpret* innen so weit, ihn als charmanten Verführer und Traummann darzustellen. «Das ist so albern und billig, dass diese Lieder kein grosses Ansehen geniessen», sagt Troitsky. «Was beweist, dass die Mehrheit ihren Verstand noch nicht verloren hat.»
Der Sänger Wadim Samoilow brachte 2003 mit seiner Band ein Album heraus, dessen Texte der Chef der Kremlverwaltung geschrieben hatte. Troitsky nannte den Musiker in einer russischen Fernsehsendung einen «dressierten Pudel», der Putins Propagandamaschine diene. Der kremlnahe Sänger verklagte den Musikkritiker daraufhin – es war nicht das einzige Mal, dass Troitsky vor Gericht stand.
Doch liess er sich davon nicht beirren. Auf einem Konzert in Russland bezeichnete er Mitglieder der Verkehrspolizei als «schmutzige Bullen» und «Werwölfe in Uniform». Einem korrupten Verkehrspolizisten verlieh er den Schmähpreis «Machen Sie Platz für den Streitwagen». Denn nach Ansicht Troitskys hatte die Polizei Fakten über einen skandalösen Autounfall vertuscht, bei dem eine renommierte Ärztin und ihre Schwiegertochter ums Leben gekommen waren. Der mutmassliche Unfallverursacher, Anatoly Barkov, damals Vizepräsident des russischen Ölkonzerns Lukoil, wurde so gedeckt. Troitskys Äusserung inspirierte den Rapper Noize MC zu seinem Song «Machen Sie Platz für den Streitwagen», der sehr populär wurde.
«Die Ereignisse auf dem ukrainischen Maidan in den Jahren 2012 bis 2014 haben einmal mehr gezeigt, dass die Musik Menschen mobilisieren kann. Das wollen die Machthaber in Russland unterbinden.» Artemy Troitsky
Troitsky kann sich noch gut an die 1980er-Jahre erinnern, als Undergroundsongs zu Hymnen der Perestroika wurden. «Diese guten Traditionen sind wieder aufgenommen worden, dank Putin, Geheimpolizei und Zensur», sagt der Musikkritiker. Protestlieder spielten immer noch eine wesentliche Rolle in Russland. Heute seien viele Rockgruppen und Rapper*innen politisch aktiv. Sie protestierten sowohl auf der Bühne als auch auf den Strassen und müssten dann oft ins Exil gehen, wenn sie nicht im Gefängnis landen wollten. «Die Ereignisse auf dem ukrainischen Maidan in den Jahren 2012 bis 2014 haben einmal mehr gezeigt, dass die Musik Menschen mobilisieren kann. Das wollen die Machthaber in Russland unterbinden.»
Trotziger Dozent
Bevor er seine Heimat verliess, unterrichtete Troitsky an der Staatlichen Universität Moskau, einer seit Sowjetzeiten renommierten Hochschule, und verfolgte dabei seine eigene Agenda. Bis zu 400 Studierende besuchten seine Vorlesungen, in denen er regierungskritischen Musiker*innen eine Plattform bot. So lud er zum Beispiel Andrej Makarewitsch ein, den Sänger der legendären Rockband Maschina Wremeni (Zeitmaschine), der die Annexion der Krim und die russische Intervention im Donbass scharf kritisiert hatte. Die staatlichen Massenmedien griffen den Musiker an, seine Konzerte wurden abgesagt. Troitsky wurde ins Dekanat einbestellt und musste in der Folge den Inhalt seiner Vorlesungen vorab mit dem Dekan und dem Rektor der Universität abstimmen. Er ignorierte die Vorgaben jedoch und lud stattdessen Journalist*innen des einzigen unabhängigen Fernsehsenders Doschd ein, der inzwischen wegen seiner kremlkritischen Berichterstattung über den Ukrainekrieg abgeschaltet wurde.
Troitskys Gehalt wurde insgesamt zwanzig Mal gekürzt – auf schliesslich 31 Euro im Monat. Nachdem ihn auch noch der russische Geheimdienst mehrfach aufgesucht hatte, verliess er die Universität schliesslich: «Ich habe aufgegeben, aber nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Zensur», sagt Troitsky.
Der Geheimdienst hatte sich bereits zu Sowjetzeiten für die Arbeit des Musikkritikers interessiert. Als er zur Soziologie der modernen Musik forschte, klopften KGB-Männer häufig an seine Tür, um ihn anzuwerben, weil er Kontakte zum Ausland hatte und sich mit Auslandskorrespondent* innen in Moskau traf. «Ich kenne keine Spione und bin selbst keiner», sagt Troitsky.
Die russischen Behörden hätten die Methoden des sowjetischen Geheimdiensts perfekt adaptiert, sagt Troitsky. Sie gingen in gleicher Weise mit Zensur, Repression, Festnahmen und Folter gegen Menschen vor, die sich gegen Diktatur, Korruption und nun auch gegen den Krieg stellten. Doch Troitsky ist sich sicher: «Der grosse Widerstand kommt noch – gegen den Staats- und Kriegsverbrecher Wladimir Putin.»