Das bleiverseuchte Wasser aus dem Flint River hatte bisweilen eine trübe, braune Farbe. Viele Menschen litten unter starkem Haarausfall. © Keystone / AP / Molly Riley
Das bleiverseuchte Wasser aus dem Flint River hatte bisweilen eine trübe, braune Farbe. Viele Menschen litten unter starkem Haarausfall. © Keystone / AP / Molly Riley

AMNESTY-Magazin Juni 2022: Wasser Wenn Wasser zu Gift wird

Von Natalie Wenger. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2022.
Vor acht Jahren trafen die Behörden der amerikanischen Stadt Flint einen verheerenden Entscheid, der zur Vergiftung von 100'000 Menschen führte. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar.

Das Wasser, das aus dem Hahn kam, war eine rostbraune, stinkende Brühe. Die Behörden versicherten, alles sei in Ordnung. Warnungen wurden ignoriert, Tests unsachgemäss durchgeführt. Anderthalb Jahre haben die Bewohner* innen von Flint, Michigan, dieses bleihaltige Wasser getrunken, damit gewaschen und gekocht. In der verarmten Industriestadt lag der Bleigehalt flächendeckend über den verträglichen Werten, teilweise erreichte er gar die Kategorie «Giftmüll». 100 000 Menschen klagten über Hautausschlag, Erbrechen und Haarausfall. Knapp 100 Menschen erkrankten an der Legionärskrankheit, 12 starben. 2016 wurde der Notstand ausgerufen, die Anwohner*innen mussten teils mit Wasser aus Flaschen versorgt werden.

Vermeidbare Schädigungen

Das Recht der Einwohner*innen von aus Flint auf Zugang zu sauberem Trinkwasser wurde wiederholt übergangen – aus Geldgier. Um Geld zu sparen, hatten die Behörden ab dem Frühjahr 2014 begonnen, das Trinkwasser aus dem Flint River abzuzapfen – einem durch die Autoindustrie verseuchten Fluss –, statt es wie zuvor aus dem Lake Huron in Detroit zu beziehen. Das aggressive Flusswasser griff die alten Bleirohre an und setzte so das giftige Schwermetall frei. Besonders für Kinder hat ein erhöhter Bleigehalt im Blut schwere Folgen. Eine Bleivergiftung kann das Gehirn schädigen, das Wachstum hemmen und Verhaltensprobleme verursachen. Diese Katastrophe hätte verhindert werden können: Rund 100 Franken hätten die Anti-Rost-Chemikalien gekostet, auf welche die Verantwortlichen bewusst verzichteten.

Die Verwaltung wiegelte ab, als die Menschen Fragen stellten. Das Vertrauen in die Institutionen sank. Die Leute gingen auf die Strasse. Viele hielten Schilder mit der Aufschrift «Wasser ist ein Menschenrecht» – ein Recht, das in den USA oft vernachlässigt wird. Als in der Uno-Generalversammlung 2010 über die Anerkennung des Menschenrechts auf Wasser abgestimmt wurde, enthielten sich die USA der Stimme. Flint ist kein Einzelfall: Rund 2,5 Prozent aller Kinder in den USA leiden an einer Bleivergiftung durch verschmutztes Wasser. Besonders hart trifft es Menschen mit niedrigem Einkommen, Schwarze und Indigene.

«Kein Grundrecht»

Der Skandal von Flint wurde zum Symbol für soziale Ungerechtigkeit. In der mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Stadt lehnten die Behörden zunächst sämtliche Beschwerden ab. Wasser sei kein durch die Verfassung verbrieftes Recht, sagten der Staat Michigan und die Stadt Flint. Das änderte sich erst, als der öffentliche Druck zunahm. Der Bürgermeister verpasste Ende 2015 die Wiederwahl. Der Chef der Umweltbehörde von Michigan trat zurück. Mehrere Einwohner*innen reichten eine Sammelklage ein, was einen langen Rechtsstreit auslöste. Erst im November 2021 entschied das US-Bezirksgericht, dass der Bundesstaat Michigan den Opfern einen Schadenersatz von 626 Millionen Dollar zahlen muss. Davon profitieren in erster Linie Personen, die zur Zeit des Skandals Kinder waren und daher dem grössten Gesundheitsrisiko ausgesetzt waren.

Inzwischen ist Flints Wasserversorgung wieder an Detroit angeschlossen, bis September 2022 sollen alle verbleibenden Rohre ausgetauscht sein. Die Revisionsarbeiten hätten bereits im November 2020 abgeschlossen sein sollen, doch 1900 Haushalte warten noch immer. Die Wasserqualität entspricht laut Behörden nun den nationalen Standards. Doch die Bevölkerung bleibt skeptisch, und so herrscht weiterhin eine hohe Nachfrage nach Wasser aus Flaschen. Die Gemeinschaft kämpft noch immer mit dem Trauma, von der eigenen Regierung vergiftet worden zu sein.