Das Tote Meer trocknet immer mehr aus. Israel und Jordanien müssen gemeinsam Lösungen finden. © mre / Amnesty International
Das Tote Meer trocknet immer mehr aus. Israel und Jordanien müssen gemeinsam Lösungen finden. © mre / Amnesty International

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2022: Wasser «Wir müssen von Wasserkonflikten zu Kooperation übergehen»

Von Natalie Wenger. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2022.
In den vergangenen Jahren haben Konflikte um Wasser stark zugenommen. Laut Peter Gleick, Experte für Wasserfragen und Gründer der NGO Pacific Institute, liegt das an der steigenden Nachfrage der Wirtschaft, am Bevölkerungswachstum und nicht zuletzt am Klimawandel. Was es jetzt brauche, sei internationale Einigkeit.
AMNESTY: Nur wenige Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine sprengten russische Streitkräfte einen ukrainischen Damm, der den Wasserfluss zur Halbinsel Krim seit 2014 blockiert hatte. Welche Rolle spielt Wasser im Ukraine-Krieg?


Peter Gleick: Der Krieg brach nicht wegen des Wassers aus, sondern hat politische, ideologische und historische Ursachen. Doch immer wieder rückt Wasser ins Zentrum des Konflikts. Als Russland 2014 die Krim annektierte, blockierte die Ukraine den Nord-Krim-Kanal und somit 80 Prozent der Wasserversorgung der Halbinsel. Dieses Jahr holte Russland zum Gegenschlag aus und zerstörte den Damm, um die Wasserzufuhr zur Krim wiederherzustellen.

«Wenn Angriffe auf Wasserversorgungssysteme absichtlich erfolgen, verstösst dies gegen das Völkerrecht.»

In Mariupol führten schwere Luftangriffe zu Unterbrüchen in der Wasser- und Stromversorgung. Ist Wasser eine Waffe der modernen Kriegsführung?


Es gibt eine Jahrtausende alte Geschichte von Konflikten um Wasser. Wasser kann dabei drei verschiedene Rollen spielen: Zum einen kann der Zugang zu oder die Kontrolle von Wasser der Auslöser von Konflikten sein – vor allem dort, wo diese Ressource knapp ist. Zum anderen wird Wasser als Waffe in Konflikten eingesetzt, die aus anderen Gründen entstanden sind. Schliesslich kann der Zugang zu oder die Kontrolle von Wasser das Ziel eines Konflikts sein. Die Angriffe auf die Wasserversorgung in der Ukraine sind ein Beispiel dafür. Wenn Angriffe auf Wasserversorgungssysteme absichtlich erfolgen, verstösst dies gegen das Völkerrecht. Die Genfer Konvention von 1949 und die Zusatzprotokolle von 1977 verbieten ausdrücklich Angriffe auf zivile, medizinische und landwirtschaftliche Infrastruktur. Und somit auch auf Wassersysteme.

Welches sind heute die wichtigsten Probleme im Zusammenhang mit Wasser?

Das vielleicht grösste Problem ist das Versäumnis, das Grundbedürfnis aller Menschen nach sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen zu erfüllen. Das ist unentschuldbar, denn wir wissen eigentlich, wie jedem Menschen sauberes Wasser zur Verfügung gestellt werden kann. Trotzdem haben immer noch 800 Millionen Menschen weltweit keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Mehr als zwei Milliarden verfügen nicht über angemessene sanitäre Einrichtungen.

«Das vielleicht grösste Problem ist das Versäumnis, das Grundbedürfnis aller Menschen nach sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen zu erfüllen.»

Der Mangel an Süsswasser und an Wasserinfrastruktur führt zu Krankheiten, Armut und schliesslich zu sozialen Unruhen und zu Gewalt gegen die Regierungen, die für die Bereitstellung dieser Dienste verantwortlich sind. Wir haben Probleme mit dem Wasser für die nationalen Ökosysteme. Es gibt das Problem des Klimawandels. Dann die Probleme mit der Wasserqualität...

Werden die Konflikte um Wasser noch zunehmen?


Die schlechte Nachricht ist: Die Zahl der Konflikte nimmt zu. Zum Teil ist dies auf eine bessere Berichterstattung und ein besseres Verständnis der Daten zurückzuführen. Die Zahlen widerspiegeln jedoch auch ein echtes Problem: Die zunehmende Wasserknappheit, die mit dem Bevölkerungswachstum, dem Wirtschaftswachstum und den Auswirkungen des Klimawandels einhergeht, befeuert Konflikte.

Im Iran oder in Indien streiten in Dürreperioden der Landwirtschaftssektor und die Städte über die Kontrolle des Wassers. Auf internationaler Ebene gibt es Konflikte zwischen Jemen und Saudi-Arabien, zwischen Syrien und dem Irak, zwischen Ägypten und Äthiopien. Und jetzt zwischen der Ukraine und Russland. In den vergangenen Jahren sind vorsätzliche Angriffe auf zivile Wassersysteme immer häufiger geworden. Der «Islamische Staat» übernahm die Kontrolle über die grossen Staudämme am Tigris und am Euphrat und setzte diese als Waffe gegen die Zivilbevölkerung ein, indem er flussabwärts gelegenen Städten und Ortschaften das Wasser vorenthielt oder sie überflutete.

Welche Faktoren erhöhen das Risiko von Wasserkonflikten?

Wir sehen vermehrt Konflikte in Ländern mit schwachen Institutionen, wo nicht nachhaltig mit Ressourcen umgegangen wird und wo die Gesetze keine gerechte Verteilung des Wassers vorsehen. Der Klimawandel verschärft das Risiko von Konflikten um Wasser zusätzlich. Viele der Wasserressourcen auf unserem Planeten – allen voran die Flüsse – überschreiten Grenzen. Den Nil teilen sich zehn Länder in Afrika, den Colorado River teilen sich die USA und Mexiko. Alle grossen Flüsse in Europa werden von zwei oder mehr Ländern gemeinsam genutzt. Wo es Abkommen über die Verteilung der Wasserressourcen gibt, wo das Wasser gerecht unter den Ländern aufgeteilt wird, wo die Institutionen für die Wasserbewirtschaftung stärker sind, gibt es weniger Konflikte.

Viele Länder setzen grenzüberschreitende Wasserströme – besonders Flüsse – in internationalen Verhandlungen als Druckmittel ein. Flussaufwärts gelegene Länder geniessen dabei einen klaren Machtvorteil.


Die internationale Wasserkonvention besagt eindeutig, dass flussabwärts gelegene Länder einen sicheren Zugang zu Wasser haben müssen. Die flussaufwärts gelegenen Länder müssen Informationen und Daten mit den flussabwärts gelegenen Ländern austauschen. Verträge, die die Rechte und Pflichten aller Parteien festlegen, die gemeinsam einen grenzüberschreitenden Fluss nutzen, erhöhen die Kooperation. Das sehen wir am Indus, am Colorado River, am Rhein.

Leider gibt es für viele Flüsse noch immer keine Abkommen. Wenn stromaufwärts gelegene Länder sich weigern, Verträgen zuzustimmen, führt das zu Konflikten. Weil die Türkei nie bereit war, ein umfassendes formelles Übereinkommen für die Flüsse Tigris und Euphrat auszuhandeln, gibt es Spannungen mit Syrien, dem Irak und dem Iran. Ägypten und der Sudan haben 1959 einen Vertrag über den Nil geschlossen, jedoch haben sich flussaufwärts gelegenen Länder diesem Abkommen nie angeschlossen. Als Äthiopien einen grossen Staudamm baute, der sich negativ auf die Zuflüsse nach Ägypten auswirken könnte, kam es zu Spannungen. Die Situation würde sich wesentlich verbessern, wenn eine Vereinbarung zwischen allen Parteien regeln würde, wie die begrenzten Wasserressourcen des Nils geteilt werden sollen. Wir müssen von Wasserkonflikten zu Wasserkooperationen übergehen.

«Die internationale Gemeinschaft sollte mehr tun, um die Zivilbevölkerung und die Wasserinfrastruktur zu schützen.»

Wie können diese Konflikte gestoppt werden?

Oft besteht die Gefahr eines Konflikts aus wirtschaftlichen Gründen: Indem wir Nahrungsmittel und landwirtschaftliche Ressourcen bereitstellen, um die wirtschaftlichen Kosten von Dürren zu verringern, können Konflikte reduziert werden. Zudem braucht es stärkere diplomatische Bemühungen, um Streitigkeiten zu beheben. Die internationale Gemeinschaft sollte mehr tun, um die Zivilbevölkerung und die Wasserinfrastruktur zu schützen. Es gibt zwar Gesetze, die diesen Schutz gewährleisten, diese wurden aber von den internationalen Strafgerichten nie angemessen durchgesetzt. Nicht zuletzt sollten wir dafür sorgen, dass alle Menschen Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen haben. Die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse – die im Recht auf Wasser festgeschrieben sind – könnte zahlreiche Konflikte rund ums Wasser lösen.