AMNESTY: Seit 2007 gibt es die Uno-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker, in welcher deren kollektive Rechte definiert sind. Aber wie wird bestimmt, welches Volk als indigen gilt?
Cathal Doyle: Zentral ist die Selbstidentifikation: Als indigen sollten nur diejenigen Völker angesehen werden, die dies wünschen und für sich beanspruchen.
Auf der Ebene des internationalen Rechts gibt es eine Reihe von Merkmalen, um diese Völker zu definieren. Die Liste ist nicht erschöpfend, und eine Gruppe muss nicht sämtliche Kriterien erfüllen. Im Allgemeinen werden vor allem Gruppen in Betracht gezogen, die eine sehr starke und lange bestehende Bindung zum Land haben, auf welchem sie von je her leben. Bei einigen Nomadenvölkern – wie den Roma – ist das Element der Landzugehörigkeit allerdings weniger präsent: Sie bezeichnen sich selbst eher als ethnische Minderheit. Die Massai in Tansania oder die Sami in Finnland haben hingegen eine sehr starke Beziehung zu ihrem Land. Sie betrachten sich als indigen und erfüllen auch die Bedingungen, die im internationalen Recht festgelegt sind.
Zweitens bestehen ein Gemeinschaftsgefühl und eine gemeinsame kollektive Identität sowie der Wunsch, diese an zukünftige Generationen weiterzugeben. Viele dieser Völker haben eine koloniale Vergangenheit und existierten bereits vor der Ankunft der Kolonialmächte und damit auch vor der Gründung des Staats, dessen Bürger*innen sie heute sind – mit der wichtigen Ausnahme der Völker, die von ihrem Land vertrieben wurden.
Auch werden indigene Völker als solche anerkannt, weil sie über eigene Bräuche und kulturelle, soziale oder wirtschaftliche Merkmale verfügen. Die Sprache kann ebenfalls ein entscheidender Faktor sein − muss aber nicht. Denn einige Gemeinschaften haben sie zugunsten der Kolonialsprache aufgegeben. Schliesslich teilen diese Bevölkerungsgruppen sehr oft eine lange Geschichte der Diskriminierung und Unterdrückung.
Es gibt also nicht die eine, allumfassende Definition. Auch die Kategorisierung als «indigen» wird von manchen abgelehnt, weil sie oft benutzt wird, um auszugrenzen. Der Begriff «indigenes Volk» ist daher sehr fliessend, mit vielen Grauzonen. Das ermöglicht es jedem Volk, entsprechend den eigenen Realitäten und Bedürfnisseen zu entscheiden, ob es etwas davon hat, in diese Kategorie aufgenommen zu werden.
Nebst dem Ausdruck «indigen» gibt es noch den Begriff «autochthon»: Was ist der Unterschied?
Diesen Unterschied in der Terminologie gibt es vor allem in der frankofonen Welt, weil dort der Begriff «indigène» eine negative, aus der Kolonialzeit stammende Konnotation hat. Im englischen Sprachraum verwendet das Völkerrecht den Begriff «indigenous», um bestimmte Gruppen zu identifizieren, die besondere Merkmale aufweisen. Diese Oberbegriffe sind jedoch umstritten: Viele Gruppen möchten lieber mit dem Namen ihres Volkes angesprochen werden als mit den Schlagwörtern «indigen» oder «autochthon».
Inwiefern trägt das Völkerrecht zum Schutz dieser Völker bei?
Das Völkerrecht verankert das Recht auf Selbstbestimmung als ein wesentliches Prinzip. Indem es einen normativen Rahmen festlegt, bietet es gewissermassen eine Rechtfertigung, um die Forderungen dieser Völker zu unterstützen. Diese Forderungen werden manchmal von Staaten oder anderen Akteuren wie grossen Unternehmen abgelehnt, weil diese fürchten, dass die betroffenen Völker Rechte an ihrem angestammten Land erwerben und so mögliche Ausbeutungen behindern könnten. Deshalb ist es für einige Gemeinschaften schwierig, als indigen anerkannt zu werden. Das sieht man zum Beispiel in Peru: Kleinere, verstreut lebende Gruppen im Amazonasgebiet werden als indigen anerkannt, nicht aber die Gruppen in der Andenregion, die ein grösseres Gebiet besiedeln, das reicher an Mineralien ist. Einige Staaten definieren indigene Völker nach eigenen, nicht völkerrechtskonformen Kriterien und verweigern gewissen Gruppen den Status als indigen − um ihre Rechte beschneiden zu können. Manchmal gehen Staaten so weit, die Existenz einer indigenen Gruppe zu leugnen.
Für die eigene indigene Kultur einzustehen, scheint heute verbreiteter zu sein als früher.
Wir beobachten dies in der Populärkultur, in der Musik, im Tanz und in anderen darstellenden Künsten. Auch die Art und Weise, wie indigene Völker in der vorherrschenden Kultur präsentiert wurden, wird heute infrage gestellt. Inzwischen gibt es in Kanada, Australien und Neuseeland eine Reihe von Museen, die von Indigenen konzipiert wurden, um mit der traditionellen Museumsarbeit zu brechen, bei der es lediglich darum ging, Artefakte ihrer Kultur zu bewahren.
Wie sieht der Schutz auf rechtlicher Ebene aus – gibt es Fortschritte?
Auf der Ebene des internationalen Rechts hat die Erklärung über die Rechte indigener Völker von 2007 die Debatte verlagert von «Haben sie Rechte?» auf «Wie kann die Einhaltung ihrer Rechte gewährleistet werden?». Diese Verschiebung ist bei den staatlichen Akteuren sichtbar und hat auch Auswirkungen auf die Unternehmen. Das spiegelt sich manchmal noch nicht in ihren Praktiken, aber zumindest in ihrer Politik wider. Natürlich hat eine Erklärung nicht die gleiche Kraft wie ein Vertrag, aber sie bietet indigenen Völkern einen moralischen Schutz: Wer wird es wagen, das eigene Image zu beschädigen, indem er von den Vereinten Nationen offiziell anerkannte Rechte leugnet?
Zum rechtlichen Rahmen
1957 verabschiedete die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) das «Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker», auch Übereinkommen 107 genannt, das unter anderem das Recht auf Eigentum an dem von ihnen bewohnten Land, aber auch das Recht auf Arbeit, Bildung und soziale Sicherheit anerkennt. Damals war das Übereinkommen als Übergangslösung gedacht, bis die Bevölkerung integriert oder assimiliert war. Es war der erste Text, der trotz kolonialer Untertöne einen humaneren Ansatz im Umgang mit indigenen Völkern vorschlug. Das Übereinkommen wurde 1989 überarbeitet und führte zum IAO-Übereinkommen 169.
Seit den 1970er-Jahren wehren sich Gemeinschaften, angetrieben durch die Bürgerrechtsbewegung, zunehmend gegen grosse Entwicklungsprojekte wie Staudämme oder Fabriken. Sie beriefen sich auf das internationale Recht, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Nach fast 25 Jahren Verhandlungen wurde schliesslich die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker verabschiedet, die am 13. September 2007 von der Generalversammlung der Uno angenommen wurde. Die USA, Kanada, Australien und Neuseeland hatten die Deklaration zunächst abgelehnt.