Das Foto stammt nicht aus einer Einzelhaftzelle des amerikanischen Terroristenverwahrungscamps Guantánamo Bay. Und auch nicht aus einem Folterkeller des Geheimdienstes CIA. Das Bild eines Aboriginal1-Jungen, an Armen und Beinen auf einem Stuhl festgeschnallt, mit einem Sack über dem Kopf und einer Schlinge um den Hals, wurde in Australien aufgenommen. Dylan Voller, damals 17, war 2014 in einem Gefängnis im australischen Northern Territory auf diese barbarische Weise «zur Ruhe gestellt worden », wie die Haftleitung damals erklärt hatte. Zuvor hatte er gedroht, sich selbst zu verletzen, um sich in den Schutz und die Sicherheit eines Krankenhauses retten zu können. Am selben Tag war der Minderjährige in ein Gefängnis für Erwachsene verlegt worden. Er hatte panische Angst davor, was ihm dort angetan werden könnte.
Das Justizsystem sei schon für Erwachsene wenig effektiv, wenn es um Rehabilitierung und Verhinderung von Rückfällen gehe, sagt Chris Cunneen, Professor für Kriminologie in Sydney. «Das trifft noch viel mehr zu für den Umgang mit Kindern», so der Experte. Trotzdem werden in Australien jedes Jahr Hunderte Kinder und Jugendliche festgenommen und hinter Gitter gebracht. Fast die Hälfte dieser jungen Menschen sind Aboriginals und Torres-Strait-Insulaner*innen – indigene Bewohner*innen der Torres-Meeresstrasse zwischen Australien und Papua-Neuguinea.
Neuste Daten des Australian Institute of Health and Welfare (AIHW) zeichnen ein düsteres Bild: Obwohl Indigene in Australien nur 5,8 Prozent aller Jugendlichen zwischen 10 und 17 Jahren ausmachen, stellen sie 49 Prozent aller inhaftierten jungen Menschen. Mehr als ein Drittel (37 Prozent) der indigenen Jugendlichen kam im Alter von 10 bis 13 Jahren zum ersten Mal mit dem Strafrechtssystem in Berührung, verglichen mit nur 14 Prozent der nicht-indigenen. Aboriginal-Kinder stammen eher aus abgelegenen und sozioökonomisch schwächeren Gegenden. Bei Jugendlichen aus sehr abgelegenen Gebieten ist die Wahrscheinlichkeit, inhaftiert zu werden, laut den Forscher*innen sechsmal höher als bei Jugendlichen aus Grossstädten. Die Jugendlichen verbringen durchschnittlich sechs Monate in staatlichem Gewahrsam. Die Mehrheit aller Inhaftierten sei nicht verurteilt oder warte auf ein Gerichtsverfahren, so das AIHW.
«Dieser Bericht zeichnet ein sehr klares Bild davon, wie unser Strafrechtssystem funktioniert – es zielt auf arme und Schwarze Kinder ab.» Cheryl Axleby, Co-Vorsitzende von Change the Record
Cheryl Axleby, Co-Vorsitzende von Change the Record, einer von indigenen Gruppen geführten Koalition von Wohlfahrts- und Rechtsorganisationen, zeigte sich in den Medien entsetzt über die neusten Statistiken. «Dieser Bericht zeichnet ein sehr klares Bild davon, wie unser Strafrechtssystem funktioniert – es zielt auf arme und Schwarze Kinder ab», sagte die Aktivistin. «Hinzu kommt, dass Kinder der First Nations mit grösserer Wahrscheinlichkeit zur Zielscheibe werden und in das Strafrechtssystem hineingezogen werden, wenn sie noch sehr jung sind. Es ist ungeheuerlich, dass Aboriginal-Kinder im Grundschulalter von der Polizei verhaftet werden.»
Institutionalisierter Rassismus
Die Situation ist umso tragischer, als es sich bei den Delinquent*innen in vielen – vielleicht den meisten – Fällen um Kinder handelt, die von den Eltern vernachlässigt werden oder die aus von häuslicher Gewalt gequälten Familien stammen. Die meisten werden wegen einfacher Vergehen verhaftet: Sachbeschädigung, Autodiebstahl, gelegentlich Einbruch. Oder einfach, weil sie sich in der Nacht auf der Strasse herumtreiben.
Der Forscher Chris Cunneen konstatiert einen «institutionalisierten Rassismus» gegenüber Indigenen: Die Polizei sanktioniere oftmals nur das Verhalten von Aboriginal-Kindern und -Jugendlichen, obwohl dieses Verhalten auch in nicht-indigenen Gemeinden vorkomme. «Ein zehnjähriges weisses Kind hat eine grössere Chance, mit einer Warnung davonzukommen, als ein indigenes», meint der Kriminologe. Sowohl die Polizei als auch die Gerichte hätten die Option, Kinder, die sich etwas zuschulden kommen lassen, Erziehungsdiensten zu übergeben, statt sie in Haftanstalten unterzubringen. Doch diese Option wird selten genutzt. Stattdessen werden in australischen Medien immer wieder Fälle bekannt, in denen indigene Kinder selbst für kleinste Vergehen hinter Gitter kommen – etwa für den Diebstahl eines Schokoriegels.
Ab 10 Jahren strafmündig
Eines aber verbindet indigene und nicht-indigene Jugendliche in Australien: Das Mindestalter für Strafmündigkeit ist zehn Jahre. Zu jung, sagen Expert*innen wie Cunneen. Verschiedene Organisationen sind daran, die zuständigen Behörden und Politiker*innen zu überzeugen, das Alter auf 14 zu erhöhen. Mit einer landesweiten Erhöhung würde Australien der Praxis der meisten Staaten Europas folgen – mit zwei Ausnahmen. In Grossbritannien gilt nach wie vor zehn als Mindestalter – ebenso in der Schweiz.
Gründe, die für eine Erhöhung sprechen, gebe es genügend, sagt Chris Cunneen. «Es ist erwiesen, dass es Kindern unter 14 Jahren an Impulskontrolle mangelt und sie eine schlecht entwickelte Fähigkeit haben, zu planen und Konsequenzen vorauszusehen», sagt der Experte. Viele Kinder im Jugendjustizsystem hätten psychische Probleme und kognitive Beeinträchtigungen. Eine Studie aus dem Jahr 2018 ergab, dass bei neun von zehn Jugendlichen in westaustralischen Jugendhaftanstalten mindestens ein Bereich der Gehirnfunktionen stark beeinträchtigt war. Es sei für sie schwierig, Regeln und Anweisungen zu verstehen.
Mehrere Bundesstaaten sind daran, ihre Gesetze entsprechend anzupassen. Es sei aber «ein langer Prozess, die Politiker von einer Erhöhung zu überzeugen», sagt Cunneen. Denn Kinder hinter Gitter zu stecken, hat in Australien Geschichte. «Als die Briten vor über 200 Jahren hier ankamen, lag das Alter sogar bei sieben Jahren», sagt der Experte. Die Geschichtsbücher sind voll mit Beispielen von Kindern – oftmals verwaist und obdachlos –, die für minimale Vergehen in die Verbannung nach Australien geschickt worden sind. In der Alltagsbrutalität der jungen Kolonie wurden Kinder auch für kleinste Verfehlungen wie den Diebstahl eines Hemds vor Gericht gezogen und so hart bestraft, wie wenn sie erwachsen wären. Einige endeten sogar am Galgen.
Für Cuneen steht ein Strafmündigkeitstalter von zehn Jahren im Widerspruch zu anderen Rechten und Pflichten von Kindern. «Wenn wir wirklich glauben würden, dass Zehnjährige das Wissen und den Entwicklungsstand haben, um lebensverändernde Entscheidungen darüber zu treffen, was richtig und falsch ist, und zwar auf einem Niveau, das der strafrechtlichen Verantwortung entspricht, dann würden wir sie auch in anderen Bereichen des Lebens anders behandeln », sagt der Experte. «Wir würden ein viel tieferes Alter festlegen, ab dem Kinder Sex haben, die Schule verlassen, heiraten, einen Vertrag unterschreiben und wählen dürften.» Viele Expert*innen meinten, sogar 14 sei noch zu jung.
Laut Cunneen könne Australien bei der Behandlung von Kindern – ganz besonders auch indigenen – auf die umfangreichen Erfahrungen der europäischen Gerichtsbarkeiten zurückgreifen, wo sich Wohlfahrtsorganisationen auf das Wohlergehen und die sichere Entwicklung von Kindern in schwierigen Situationen konzentrierten. Und zwar auch in Fällen, in denen Australien noch immer auf Polizei, Gerichte und Strafen zurückgreife. «Erziehung vor Strafe» also.
1Der Begriff Aborigines wird im Englischen als abwertend empfunden und durch Aboriginals ersetzt. Dieser ist eine verbreitete Sammelbezeichnung für die indigenen Völker Australiens. Die Aboriginals sind kein einheitliches Volk, sondern bestehen aus vielen Völkern oder Clans mit oft höchst unterschiedlichen Gebräuchen und Sprachen.