Sexualisierte Gewalt wird in Kriegen immer wieder als Waffe eingesetzt. Ein zerstörtes Zimmer in Slatyne nach einem russischen Artillerieangriff im Mai. © Alex Chan Tsz Yuk/SOPA Images/LightRocket via Getty Images
Sexualisierte Gewalt wird in Kriegen immer wieder als Waffe eingesetzt. Ein zerstörtes Zimmer in Slatyne nach einem russischen Artillerieangriff im Mai. © Alex Chan Tsz Yuk/SOPA Images/LightRocket via Getty Images

MAGAZIN AMNESTY Amnesty-Magazin August 2022: Ukraine Kontinuum des Leids

Von Cornelia Wegerhoff. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom August 2022.
In der Ukraine häufen sich Berichte über Vergewaltigungen durch russische Armeeangehörige. Sexualisierte Gewalt ist inzwischen als Kriegsverbrechen anerkannt – wenn sie bewiesen werden kann.

Marta Havryshko sucht nicht lange nach Worten. «Ich denke, der Begriff, mit dem sich die Situation am ehesten beschreiben lässt, ist Horror.» Die Historikerin aus Lwiw erforscht seit Jahren die sexualisierte Gewalt in Kriegen und Genoziden weltweit, insbesondere während des Holocaust in der Ukraine. Die grauenvollen Situationen, die damalige Zeitzeug*innen beschrieben hätten, wiederholten sich jetzt, sagt die 37-jährige Ukrainerin erschüttert. «Es sind die gleichen Muster.»

Havryshko lehrte und forschte an der ukrainischen Nationalakademie der Wissenschaften. Anfang März floh sie mit ihrem neunjährigen Kind in die Schweiz und arbeitet inzwischen an der Universität Basel. Vor Kurzem hat sie geflüchtete Frauen aus Mariupol getroffen. Diese hätten während der Belagerung der ukrainischen Hafenstadt nachts keine Sekunde geschlafen. Zu gross war die Angst, dass russische Soldaten die Dunkelheit nutzen, um ihre Töchter zu kidnappen oder sie selbst vor den Augen der Familie zu vergewaltigen. Berichte von Ukrainerinnen, die genau jene Gräueltaten beschreiben, häufen sich. Die entblössten Leichen ermordeter Frauen in Butscha und andernorts beweisen, dass die russische Armee sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe einsetzt.

Täter bleiben oft straffrei

Am 11. April erhob Kateryna Cherepakha, die Vorsitzende der Hilfsorganisation La Strada Ukraine, vor dem Uno-Sicherheitsrat in New York den gleichen Vorwurf. Per Video zugeschaltet, berichtete sie über Anrufe, die bei der Hotline von La Strada eingehen: «Allein heute gab es neun Fälle von Vergewaltigungen durch russische Soldaten.» Cherepakha nannte die Orte, sprach von Traumatisierung und davon, dass diese Fälle nur «die Spitze des Eisbergs» seien. Denn die, die es geschafft hätten, an sichere Orte zu gelangen, könnten über das Erlebte meist nicht sprechen. «Sie brauchen zuerst Unterstützung, Therapie, Heilung», sagte die ukrainische Aktivistin. Viele Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt kämen womöglich nie ans Tageslicht.

Die, die es geschafft hätten, an sichere Orte zu gelangen, könnten über das Erlebte meist nicht sprechen.

«Das Thema ist extrem stigmatisierend», bestätigt Monika Hauser, Gynäkologin und Gründerin von Medica Mondiale. Die deutsche Frauenrechtsorganisation setzt sich für ein Ende der sexualisierten Gewalt ein und unterstützt weltweit und auch in der Schweiz Partnerorganisationen, die kriegstraumatisierten Frauen psychosoziale Hilfe anbieten. «In patriarchalen Gesellschaften wird den Frauen die Schuld zugeschoben und ihnen vorgeworfen, sie selbst hätten die ‹Ehre› verletzt und nicht etwa der Täter», erklärt Hauser. Erst wenn diese Denkweise aufgebrochen werde, könne darüber gesprochen werden, dass Frauen schwerste Menschenrechtsverletzungen erlebt hätten und dass sowohl die Familien als auch die gesamte Gesellschaft darum bemüht sein müssten, die Frauen wieder in ihre Mitte zu nehmen und nicht auszugrenzen.

Hauser selbst hörte schon in jungen Jahren von ihrer Südtiroler Grossmutter von sexualisierter Gewalt. Auch während ihrer gynäkologischen Ausbildung sei das Thema präsent gewesen. Als sie 1992 von den Massenvergewaltigungen in den Balkan-Kriegen erfuhr, hätten die Medien das Thema aufgegriffen, aber von Hilfe für die traumatisierten Frauen sei nirgends die Rede gewesen. Also reiste Hauser selbst ins Kriegsgebiet. Zusammen mit 20 bosnischen Fachfrauen baute die Ärztin das erste Frauentherapiezentrum in Zenica auf. «Der Mut der bosnischen Frauen hat viel zutage gebracht », sagt sie heute. Der Internationale Strafgerichtshof bestätigte nach dem Bosnien-Krieg in wegweisenden Urteilen, dass hinter den Vergewaltigungen muslimischer Frauen das Ziel steckte, die bosnische Bevölkerung als Ethnie zu eliminieren. Es kam zu mehr als hundert Verurteilungen, allerdings blieb die Mehrheit der Täter straffrei. Viele der betroffenen Frauen hätten sich dadurch, dass die Medien ihre Gesichter zeigten und ihre Namen nannten, erneut missbraucht gefühlt und sich traumatisiert zurückgezogen, sagt Hauser.

Langfristige Hilfe nötig

Mit Blick auf die Lage in der Ukraine fordert Medica Mondiale, dass dortige Frauenrechtsorganisationen und Aktivist*innen unterstützt werden. Überlebende sexualisierter Gewalt im Krieg benötigten langfristige, ganzheitliche und sensible Unterstützung. Das staatliche Gesundheitspersonal und die Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen müssen geschult werden, um die Betroffenen traumasensibel unterstützen zu können. Hauser kritisiert, dass über sexualisierte Gewalt in der Ukraine zum Teil reisserisch berichtet werde, und fordert mehr Respekt für die Opfer. Dass Vergewaltigungen strategisch angeordnet worden seien, könne wohl in den wenigsten Fällen bewiesen werden. Aber Befehle seien gar nicht nötig. Auch in Vietnam und in anderen Kriegen hätten die Männer ihr «patriarchales Rüstzeug » bereits von zu Hause mitgebracht. «Und wenn Putin die Täter von Butscha ehrt, dann ist das eine klare Legitimation », stellt Hauser fest.

Bei der Sitzung des Uno-Sicherheitsrats am 11. April 2022 sagte der Botschafter Russlands knapp, russische Soldaten begingen keinerlei sexualisierte Gewalttaten.

Bei der Sitzung des Uno-Sicherheitsrats am 11. April 2022 sagte der Botschafter Russlands knapp, russische Soldaten begingen keinerlei sexualisierte Gewalttaten. Amnesty International hat jedoch andere Informationen, etwa von einer Frau in der Ukraine, die mehrfach von russischen Soldaten mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt wurde. Und das, nachdem ihr Mann zuvor aussergerichtlich hingerichtet worden war.

Derzeit recherchiert Amnesty weitere mögliche Fälle sexualisierter Gewalt im Ukraine-Krieg. «Lange Zeit wurden sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen gar nicht als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet», sagt Katharina Masoud, Fachreferentin für Geschlechtergerechtigkeit bei Amnesty Deutschland. Doch das Römer Statut zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, seit 2002 in Kraft, habe explizit geregelt, dass es sich um Verbrechen nach dem Völkerstrafrecht handelt. Dies sei ein grosser Fortschritt. «Die Expert*innen sind sich darüber einig, dass sexualisierte Gewalt im Krieg als Teil eines grösseren Systems von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verstehen ist», sagt Masoud. Diese Kriegsverbrechen seien überall auf der Welt Teil eines Kontinuums. Denn mit ihnen setze sich die Gewalt, unter der Frauen bereits in Friedenszeiten zu leiden hätten, weiter fort.

In der Tat habe auch die Ukraine in Sachen Geschlechtergerechtigkeit einiges nachzuholen, sagt die Historikerin Havryshko. Frauen stellten im Parlament nur 20 Prozent der Abgeordneten. Sie müssten aber auf höchstem Niveau mitverhandeln, wenn es um die Zukunft der Ukraine gehe. Denn der Horror müsse so schnell wie möglich ein Ende haben. Die jüngste schlechte Nachricht aus ihrer Heimat zeige, wie gefährdet Ukrainerinnen in den russisch besetzten Gebieten seien: In Cherson sei eine befreundete Psychologin entführt worden. «Am frühen Morgen sind sechs russische Soldaten in ihre Wohnung gestürmt und haben sie mitgenommen», sagt Havryshko. Noch wisse niemand, was ihrer Freundin zugestossen sei.