Mein Herz blieb fast stehen, als ich das Video der iranischen Schülerinnen sah, die ihr Kopftuch ausgezogen hatten und Fotos des obersten religiösen Führers Chamenei von den Wänden rissen. Diese zirka 15-jährigen Mädchen jagten schliesslich sogar den Schuldirektor aus dem Gebäude. Dabei filmten sie sich gegenseitig und teilten die Clips in den sozialen Medien. Als Mutter eines Teenagers, der hier in der Schweiz in Frieden und Sicherheit aufwächst, hatte ich grosse Angst um sie. Gleichzeitig bewunderte ich ihren unglaublichen Mut und ihre Entschlossenheit.
Wie die iranischen Sicherheitskräfte auf solche Provokationen reagieren, wissen wir inzwischen zur Genüge. Sie fallen in Schulen ein, zwingen die Mädchen und Frauen mit brutaler Gewalt zum Einhalten der Kleidervorschriften und verlangen Gehorsam. Zum Beweis der Regimetreue müssen die Schüler*innen manchmal nationalistische Lieder singen.
Die Sicherheitskräfte kennen kein Pardon. Oft ist nicht einmal klar, zu welcher Einheit sie gehören. Männer in Zivil schlagen auf die Demonstrant*innen ein und zerren sie vor aller Augen in ein Fahrzeug. Wer sich weigert, wird geschlagen, verschleppt oder zu Tode geprügelt, wie die 16-jährige Asra Panahi an einer Schule in Ardabil.
Trotz der Gefahr demonstrieren nicht nur die jungen Iraner*innen und die Frauen weiter. Es sind Menschen aller Altersgruppen, aller sozialen Schichten, überall im Land.
Täglich erscheinen neue Fotos von meist jungen Opfern in den sozialen Medien. Insgesamt sind seit Ausbruch der Proteste Hunderte Menschen getötet worden, darunter auch Kinder. Erschossen wie der elfjährige Javad Pousheh oder zu Tode geprügelt wie Asra.
Trotz der Gefahr demonstrieren nicht nur die jungen Iraner*innen und die Frauen weiter. Es sind Menschen aller Altersgruppen, aller sozialen Schichten, überall im Land. Mehr als vier Jahrzehnte Unterdrückung, Einschüchterung, Verhaftungen, Folter treiben sie auf die Strasse. Der Tod von Mahsa Amini hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Die junge Kurdin, die von der Sittenpolizei verhaftet wurde, weil ihr Kopftuch angeblich nicht richtig sass, starb nach Misshandlungen auf der Polizeistation. Daraufhin rissen sich unzählige Frauen in allen Landesteilen die Tücher vom Kopf und verbrannten sie. Viele schnitten sich die Haare ab, um so gegen die repressive und frauenverachtende Politik der Islamischen Republik zu protestieren.
Die internationale Solidarität ist gross. Berühmte Schauspielerinnen tun es den Demonstrantinnen gleich und schneiden sich die Haare ab. In europäischen Grossstädten gehen Zehntausende auf die Strasse. Menschenrechtsorganisationen, Aktivist*innen und Politiker*innen aller Couleur fordern die iranischen Behörden auf, den rechtswidrigen Einsatz von Gewalt zu beenden. Mehrere Regierungen haben die Sanktionen verschärft. Doch all dies nützt bislang nichts. Der Tod von Mahsa Amini und all den anderen wird nicht untersucht. Die Straflosigkeit führt dazu, dass die Sicherheitskräfte und die Sittenpolizei immer härter durchgreifen.
Wir müssen den mutigen Iraner*innen zeigen, dass sie nicht allein sind in ihrem Kampf gegen Unterdrückung.
Diese Entwicklung macht Angst. Es gab bereits grosse Demonstrationswellen im Iran, 2009 und zuletzt 2018. Immer setzte sich das Regime mit gnadenloser Härte durch. Viele Demonstrant* innen verschwanden auf Jahre im Gefängnis. Auch jetzt werden wieder Hunderte Menschen angeklagt. Deshalb dürfen wir keinen Tag aufhören, unsere Solidarität zu zeigen und den internationalen Druck auf das Regime zu erhöhen. Wir müssen den mutigen Iraner*innen zeigen, dass sie nicht allein sind in ihrem Kampf gegen Unterdrückung und dass wir ihren Ruf «Frau, Leben, Freiheit» millionenfach verstärken – damit niemand die Ohren verschliessen kann.