Ein für menschliche Nähe kaum geeigneter Ort: In den Lagern auf Lesbos gibt es keine Privatsphäre, wie die Familie Nikpa aus Afghanistan erfahren musste. © Dimitris Michalakis
Ein für menschliche Nähe kaum geeigneter Ort: In den Lagern auf Lesbos gibt es keine Privatsphäre, wie die Familie Nikpa aus Afghanistan erfahren musste. © Dimitris Michalakis

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-MAGAZIN DEZEMBER 2022: RIGHT TO LOVE Sechs Quadratmeter Privatsphäre

Von Christian Jakob. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2022.
Der Alltag im Flüchtlingslager macht es so gut wie unmöglich, Intimität auszuleben und fürsorglich zu bleiben. Die Familie Nikpa aus Afghanistan musste das auf Lesbos jahrelang schmerzhaft erleben.

Isobox heissen die Metallcontainer. Aber sie isolieren nicht. Im Sommer staut sich in ihnen die Hitze, im Winter ist es eiskalt. Niemals schützen die Isoboxen vor dem Lärm, dem Streit und der Spannung, die in der Luft liegt. Gerade mal auf sechs Quadratmetern lebte die vierköpfige Familie Nikpa aus Afghanistan in einer solchen Isobox in Moria, dem einst grössten Flüchtlingslager Europas. 20 000 Menschen lebten zeitweise in diesem Lager auf der Ägäis-Insel Lesbos, das für 2800 Geflüchtete gebaut wurde.

Mir Ahmad, 38 Jahre alt, war früher Soldat, Latifah ist 29 und arbeitete als Hebamme. Die beiden lernten sich in jungem Alter kennen und heirateten kurz darauf – Latifah war gerade mal 17 Jahre alt. Das Paar, das der Minderheit der Hazara angehört, lebte in Kabul. Doch dann verschleppten die Taliban erst Mir Ahmads Bruder, dann seinen Vater. «Wir wollten nicht weg», sagt Latifah. Doch sie fühlten sich nicht mehr sicher und verliessen Afghanistan mit ihren beiden Töchtern im Jahr 2017. Vier Mal wurde ihr Asylantrag in Griechenland abgelehnt, vier Jahre lang lebten sie in Flüchtlingslagern auf Lesbos, die Hälfte der Zeit in Moria.

Mit sieben Familien wohnten sie dort in einem der grauen Container, voneinander getrennt nur durch eine dünne Wand, die kein Geräusch abhielt. Eine Tür gab es nicht, so hängten die Nikpas einen alten Teppich vor ihren Teil der Isobox. «Alle konnten einfach rein, uns bei allem zusehen», sagt Latifah. In einer Ecke lag das Gepäck, sie schliefen auf Decken auf dem Boden.

Eine Toilette und ein Waschbecken gab es auf 40 Menschen, die im Container lebten. Vor der Tür schliefen Hunderte in Zelten, die keine eigene Waschgelegenheit und Toilette hatten. Drei Mal am Tag mussten sie stundenlang für Essen und Wasser anstehen. In Moria gab es Schlägereien, Brände, Messerstechereien. Frauen mussten Vergewaltigung fürchten und Kinder Rattenbisse. «Wir waren mit den Kindern fast immer drin. Wir hatten Angst, ihnen würde draussen etwas zustossen», sagen die Nikpas.

«Wir hatten keinen Ort, um unsere Emotionen auszudrücken, um den Stress loszuwerden. Wir haben uns gestritten und danach sassen wir einfach weiter da. Wir konnten nirgendwohin ausweichen.»Latifah

Die Nachbar*innen schrien sich an, erzählt Latifah. Es gab Streit wegen der Toiletten, wegen des Putzens, wegen allem. «Wir hatten keinen Ort, um unsere Emotionen auszudrücken, um den Stress loszuwerden. Wir haben uns gestritten und danach sassen wir einfach weiter da. Wir konnten nirgendwohin ausweichen.»

Man blieb also sitzen, bis man müde wurde, sagt Latifah, bis man irgendwann entkräftet einschlief, und nur hoffen konnte, dass es am nächsten Tag besser geht. «Oft konnten wir nicht schlafen, es gab immer besser Brände, wir hatten Angst», sagt Latifah.

Ehe und Familie rechtlich geschützt

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das europäische und das nationale Recht schützen die Ehe, die Familie, das Privatleben. Kaum ein Parteiprogramm kommt ohne ein Bekenntnis dazu aus. Aber was nützt das Menschen wie den Nikpas?

Wenn man froh sein kann, auf der Flucht übers Mittelmeer mit dem Leben davongekommen zu sein und wenn man in Lebensumständen feststeckt, die wie in Moria darauf ausgerichtet sind, zu zermürben, zu vertreiben und abzuschrecken – was bleibt dann von der Liebe? Von jener Liebe, die viele auch unter wesentlich einfacheren Umständen nicht zu erhalten vermögen?

_DSF9700.jpg Wie ihre Zukunft aussehen wird, ist ungewiss: Die Familie Nikpa. © Dimitris Michalakis Sie sei froh, dass es zwischen ihnen nie gewalttätig wurde, sagt Latifah. Sie ist stolz, dass sie ihren Mann und die Kinder nie angeschrien hat. Wen man liebt, den will man beschützen, sagt Mir Ahmad. Doch das kann er nicht immer.

Als sie in Moria ankamen, hatten sie nur einen Verschlag aus Planen zur Verfügung. Eines Nachts gab es eine Massenschlägerei, Menschen trampelten über sie hinweg, jemand trat Latifah ins Gesicht. Mir Ahmad zeigt auf seinem Handy Fotos mit dem geschwollenen Gesicht Latifahs, sie ist kaum zu erkennen. Ein anderes Foto zeigt eine seiner Töchter mit verbundenem Bein.

Anfangs erhielten sie 240 Euro im Monat. Bald wurde ihr erster Asylantrag abgewiesen. Danach gab es kein Geld mehr. Mir Ahmad wollte gerne die Wünsche seiner Liebsten erfüllen, doch das konnte er nicht. Wenn sie aus dem Lager in die Inselhauptstadt Mytilini und zur Hafenpromenade liefen, verkauften dort Händler*innen bunte Ballons, die Bäcker boten Baklava an, und in den Cafés gab es Eis. «Stell dir vor, dein Kind sieht andere Kinder, die das alles bekommen. Aber du hast kein Geld. Was sagt man dann? ‹Sei still›? Es fühlt sich so schlecht an.»

Ihr zweiter, dritter und vierter Asylantrag wurden abgelehnt. Mir Ahmad sagt, er habe psychische Probleme bekommen, die Ärzt*innen bestätigten dies. Nach der zweiten Ablehnung verschreiben sie ihm Medikamente. Eine Packung kostet 40 Euro, doch so viel Geld hat Mir Ahmad nicht. Sieben Monate ist es her, seit er das Medikament zum letzten Mal von einer Hilfsorganisation bekommen hat.

«Stell dir vor, dein Kind sieht andere Kinder, die das alles bekommen. Aber du hast kein Geld. Was sagt man dann?» Mir Ahmad

Wenn Latifahs Kopfschmerzen in Moria nicht mehr aufhörten, ging sie manchmal zur Krankenstation. Meist war die Schlange zu lang und sie drehte wieder um. Wenn sie mal dran kam, hiess es: «Trink Wasser!»

Der fünfte Asylantrag hat Erfolg

Im September 2020 brannte das Lager in Moria ab. Die Bewohner*innen kamen 2021 ins Reception and Identification Centre, ein neu errichtetes Lager auf Lesbos. Dort hatte die Familie eine Isobox ganz für sich. Europas Flüchtlingslager sind dazu da, Menschen fernzuhalten, die man hier nicht haben will. Dennoch glaubten die Nikpas an ihre Zukunft in Europa. Im April 2021 kam ihre dritte Tochter zur Welt. Im Mai 2022 folgte dann eine weitere gute Nachricht: Der fünfte Asylantrag wurde genehmigt.

_DSF9669_nwe.jpg Auf sechs Quadratmetern lebte die Familie Nikpa in Moria. © Dimitris Michalakis

Wohl wegen der Machtübernahme der Taliban änderte Griechenland die Anerkennungspraxis. «Danke USA, danke Nato», sagten die Afghan*innen im Lager scherzhaft. Die Nikpas bekamen Asyl. Doch Mir Ahmad ging es immer schlechter. Eine NGO besorgte ihnen eine kleine Wohnung in Mytilini.

An einem Samstag im September 2022 verliess die Familie das Lager. Sie hatten kein Geld für den Bus, so liefen sie bei 30 Grad kilometerweit die enge Küstenstrasse entlang zur neuen Bleibe.

Ihre neue Wohnung ist in einem Wohnviertel auf einem Hang oberhalb Mytilinis, im ersten Stock eines alten Natursteinhauses. Zwei Zimmer, eine Küche. Die Nikpas sitzen auf einer Matratze auf dem Boden. Seit fünf Jahren ist es die erste Wohnung für sie. Und nun?

«Putzen», sagt Latifah. «Wir brauchen Essen», sagt Mir Ahmad. Geld bekommen sie nicht. Eine Weile lang können sie noch die Essenspakete im Lager abholen. Mir Ahmad läuft dafür eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Sie sind als Flüchtlinge anerkannt, doch um die Insel verlassen zu können, müssen sie Papiere haben und für diese Papiere bezahlen. Das Geld dazu fehlt. Wie ihre Zukunft aussehen wird, ist ungewiss.

Andere Familienmitglieder haben es geschafft, weiter zu fliehen. Sie leben nun in Recklinghausen in Deutschland. «Ich weiss nicht, ob wir je dort hin können», sagt sie. «Aber es wäre wunderbar.»