AMNESTY: Wir erhalten im Moment nur sehr wenige Informationen und Bilder aus dem Iran. Wie steht es um den Protest?
Solmaz Khorsand: Bis Ende Jahr waren die Menschen sehr aktiv, seither ist es ruhiger. Im Westen haben wir die Erwartung, dass Proteste hauptsächlich auf den Strassen stattfinden, mit Menschenmassen und brennenden Mülltonnen. Tatsächlich findet der Protest im Iran auf vielen Ebenen statt. So werden noch immer Parolen des Widerstands in die Nacht geschrien oder an Wände gesprüht.
Woher nehmen die Menschen den Mut, nach den Verhaftungen und Hinrichtungen weiter Widerstand zu leisten?
Die Menschen im Iran leben seit 44 Jahren in diesem repressiven System. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, haben nichts mehr zu verlieren. Offenbar gewinnt man dadurch diesen Mut, den ich unglaublich bewundere.
Ich finde es falsch, wenn Leute im Westen sagen, «das könnten wir sein». Uns fehlt die Erfahrung, in einem so totalitären System zu leben. Wir sind viel zu satt, was unsere demokratischen Errungenschaften und unsere Freiheit betrifft; wir kennen die Kostbarkeit der Werte nicht mehr, für die die Leute im Iran auf die Strasse gehen. So waren die afghanischen Frauen nicht von ungefähr die Ersten, die ihre Solidarität mit den Iraner*innen ausgedrückt haben. Sie verstanden sofort, um was es im Iran geht – sie, die selber unfrei sind, nicht mehr in die Schulen und an die Universitäten gehen können. Das ist eine andere Form von Solidarität als die im Westen.
Was ist diesmal anders als bei früheren Protesten, die brutal niedergeschlagen wurden?
Diesmal war der Auslöser der Tod von Jina Mahsa Amini, die von der «Sittenpolizei» festgenommen wurde, weil sie angeblich ihr Haar nicht richtig bedeckt hatte. Mit dieser Erfahrung können sich viele Iraner*innen identifizieren – Frauen wie Männer. Die Männer kriegen es ja mit, wenn ihre Schwestern, Frauen und Freundinnen abgeführt werden und traumatisiert zurückkehren.
«Mit dieser Erfahrung können sich viele Iraner*innen identifizieren – Frauen wie Männer. Die Männer kriegen es ja mit, wenn ihre Schwestern, Frauen und Freundinnen abgeführt werden und traumatisiert zurückkehren.»
Was mit Jina Mahsa Amini passiert ist, ist im Iran eigentlich «nichts Besonderes» – nur starb diesmal die Frau durch die Polizeigewalt, und alle bekamen es mit. Jina Mahsa Amini war ausserdem Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Die Kurd*innen haben seit der Einrichtung der Islamischen Republik viele Erfahrungen mit Gewalt, aber auch mit Selbstorganisation gemacht. Daher sind sie auch organisierter und disziplinierter in ihrem Widerstand als andere Gruppen. Wenn kurdische Städte nun wieder angegriffen werden wie nach der Revolution 1979 oder dann erneut im Iran-Irak-Krieg, verursacht dies bei ihnen ein grosses Déjà-vu.
Neben den Kurd*innen kämpfen auch andere marginalisierte Ethnien wie die Menschen in Belutschistan, der ärmsten Region des Landes. Da gehen die Sicherheitskräfte besonders hart vor, sie beginnen sofort zu schiessen – etwas, das sie sich in Teheran nicht so leicht erlauben können. Bei diesen Protesten ist also besonders, dass Männer und Frauen, aber auch verschiedene Ethnien Seite an Seite auf die Strasse gehen. Die grosse Solidarität mit den Menschen aus Kurdistan und Sistan-Belutschistan ist einzigartig.
Was ist das vereinende Ziel der Menschen, die auf die Strasse gehen? Es geht ja längst nicht mehr nur um Frauenrechte.
Das ultimative Ziel ist der Regimesturz. Es gibt natürlich auch Partikularforderungen, so zum Beispiel wegen ausbleibender Gehälter oder Renten. Es gibt eine riesengrosse Misswirtschaft, es mangelt an so vielem. Die Islamische Republik funktioniert auf so vielen Ebenen nicht, es sind nicht nur die fehlenden Freiheiten und Rechte. Sie versagt an jeder Front, nur den Gewaltexzess kriegt sie problemlos hin. Und das wissen die Iraner*innen auch.
Das Regime verliert seit Jahren an Legitimität, und mit jeder Protestwelle fallen auch Sympathisant* innen weg. Natürlich darf man nicht erwarten, dass der harte Kern der Unterstützer*innen sich den Protestierenden bald anschliesst, aber dass das einmal passiert, ist nicht ausgeschlossen. Vor allem, wenn auch die Kinder der Machtelite an den Unruhen teilnehmen, inhaftiert oder sogar getötet werden, wie es bei der grünen Bewegung 2009 der Fall war. Das bringt auch Regimeanhänger*innen zum Umdenken. Aber das geht nicht von heute auf morgen.
Welche Kreise in der Gesellschaft unterstützen die Regierung momentan noch?
Die Gründungsväter der Islamischen Republik haben die Revolution als ein Projekt für die Armen begriffen und für die Unterschicht auch viel gemacht, so gab es etwa eine Bildungsoffensive. Diese Unterschichten sind spätestens ab 2017 zum Teil weggebrochen, weil sie mit den hohen Lebensmittelpreisen und später mit den Benzinpreisen nicht mehr mithalten konnten. Diese Menschen wissen: Wenn ich nicht an der Brust der Islamischen Republik hänge, dann habe ich nichts von diesem Regime.
Was die Wirtschaft betrifft, so ist diese sehr eng mit dem Regime verflochten; die Revolutionsgarden sind nicht nur Teil des Repressions- und Machtapparats, sondern sie kontrollieren defacto die Wirtschaft. Sie wissen, dass ihr Fortbestehen an die Existenz der Islamischen Republik gekoppelt ist. Deshalb krallen sie sich mit allen Mitteln ans System. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Wo sollten sie denn hin angesichts der internationalen Sanktionen? Und natürlich haben sie auch Angst. Sie erinnern sich daran, was bei der Revolution 1979 geschah: Die damalige Führung wurde ausgelöscht. Darum will die Elite einen Regierungssturz mit allen Mitteln vermeiden.
In oppositionellen Kreisen ist man sich dessen bewusst. Daher plädiert man dafür, dass man Regimeanhänger*innen auch einen «Exit» bieten muss, um sie zu motivieren, mit der Islamischen Republik zu brechen. Um eine Transformation zu erlangen, muss man – auch wenn es unbeliebt ist – irgendwann auch mit jenen zusammenarbeiten, gegen die man gekämpft hat. Dass jetzt nicht die grössten Verbrecher mitverhandeln sollen, ist aber auch klar.
Als Medienschaffende wünsche ich mir, dass weiter differenziert berichtet wird und es nicht Hinrichtungen und Blutvergiessen braucht, damit die Aufmerksamkeit hoch bleibt.
Was können wir tun, um den Menschen im Iran zu helfen?
Viele sind enttäuscht darüber, dass es nicht mehr Sanktionen gegen die Vertreter*innen der iranischen Regierung im Ausland gibt. Sie leben auf Kosten des iranischen Volkes in Freiheit und Luxus, während im Iran Menschen auf der Strasse sterben. Als Medienschaffende wünsche ich mir, dass weiter differenziert berichtet wird und es nicht Hinrichtungen und Blutvergiessen braucht, damit die Aufmerksamkeit hoch bleibt. Wenn es Politiker*innen im Westen wichtig ist, sich solidarisch mit den Protestierenden zu zeigen, dann hört man von Aktivist*innen einige Vorschläge: So ist es für Iraner*innen schwierig, Visa zu bekommen, um Familienangehörige zu sich holen zu können. Ein Vorschlag ist auch, mit Universitäten zu kooperieren und Studierende einzuladen – wie man es mit Universitäten in der Ukraine gemacht hat. Ebenso wird ein Abschiebestopp diskutiert, denn eine Ausschaffung von iranischen Asylsuchenden ist definitiv kein Zeichen der Solidarität.