Sie spielen im Basketball-Nationalteam. Sie sind Schauspielerinnen. Sie sind trans Frauen. Sie sind Mütter. Sie sind Bogenschützinnen. Sie sind Kletterinnen. Sie sind Sängerinnen. Sie sind Ärztinnen. Sie sind Studentinnen. Sie sind überall in der iranischen Gesellschaft: Frauen, die ihr Kopftuch öffentlich ablegen, um für ihre Freiheit und für die Freiheit aller im Iran zu demonstrieren. Sie tun dies im Wissen, dass sie dafür inhaftiert, vergewaltigt, misshandelt und getötet werden können.
Das Regime tut alles dafür, diesen zivilen Ungehorsam zu brechen. Taxifahrer, die Frauen in ihren Autos mitnehmen, die das Kopftuch – den Hijab − nicht oder nicht «richtig» tragen, erhalten SMS, in denen ihnen mit Strafe gedroht wird. Ladenbesitzer*innen ist es inzwischen verboten, Frauen zu bedienen, die ihren Hijab ablegen. Ansonsten kann das Geschäft geschlossen werden. Trotz all dieser Unterdrückungsstrategien geben die Frauen nicht auf; weiterhin sind viele von ihnen ohne Hijab in der Öffentlichkeit unterwegs.
Ladenbesitzer*innen ist es inzwischen verboten, Frauen zu bedienen, die ihren Hijab ablegen.
Widerstandskraft zeigte auch die Schauspielerin Taraneh Alidoosti – eine international bekannte und beliebte Schauspielerin. Früh zeigte sie ihre Unterstützung für die Protestbewegung. Auf Instagram veröffentlichte sie im Herbst 2022 ein Bild von sich, auf dem sie kein Kopftuch trug und ein Blatt mit der kurdischen Aufschrift «Jin Jiyan Azadi» zeigte. Sie setzte damit auch ein Zeichen für die Intersektionalität des Protestes. Im Dezember wurde sie festgenommen. Bei ihrer Freilassung auf Kaution Anfang Januar wurden Fotos verbreitet, wie Freund*innen und Familie die Schauspielerin vom Gefängnis abholten – wieder trug sie kein Kopftuch. Ein anderes Bild zeigt sie ohne Kopftuch im Auto, mit den Fingern das Victory-Zeichen machend.
Die Proteste im Iran konzentrieren sich zurzeit auf bestimmte Jahrestage oder Anlässe. Sie sind organisierter geworden, genauso wie die Protestierenden selbst auch. Vieles läuft im Hintergrund. So gibt es Netzwerke, an denen sich besonders Frauen beteiligen. Sie sammeln Informationen zu politischen Gefangenen und geben sie an Kontakte und Medien im Ausland weiter. Damit wird Aufmerksamkeit für diese Menschen geschaffen, und dies – das wissen die Menschen im Iran – rettet Leben.
Mutiger Aktivismus
Am Abend des 8. Januar strömten viele Menschen zum Rajai-Shahr-Gefängnis in der Stadt Karaj; es gab Meldungen, dass die zwei zum Tode verurteilten jungen Männer Mohammad Ghobadlou und Mohammad Boroughani am nächsten Morgen hingerichtet werden könnten. Mohammad Ghobadlous Mutter stellte sich vor die Menge und hielt eine starke Rede über die Ungerechtigkeit, die ihrem Sohn widerfuhr. Solche Einsätze von Angehörigen erinnern an die «Mütter von Khavaran». Nach den Massakern an politischen Gefangenen in den 1980er Jahren war es ihrem Einsatz und ihrem Widerstand gegen das Regime zu verdanken, dass die Machthabenden die Massenhinrichtungen nicht länger vor der Welt geheim halten konnten.
Seit Mitte September sehen wir Videos, Fotos und Berichte aus dem Iran, die den westlichen Blick auf muslimische Frauen in Ländern wie dem Iran, Afghanistan oder dem Irak infrage stellen. Beeinflusst von Klischees und Vorurteilen, sah man Musliminnen als schwach an, als Menschen, die sich in einem Zustand der Unterwerfung eingerichtet haben. Wer aber Verbindungen in die Region hatte, erkannte etwas anderes: die Netzwerke der Frauen, ihre Stärke und ihre Kämpfe im Alltag. Im Iran geschieht dies nun nicht mehr versteckt, die Frauen wehren sich offen gegen die Repression. Und sie kämpfen nicht allein. An ihrer Seite stehen zahlreiche Männer, die LGBTI*-Community, die Kurd*innen, die Belutsch*innen, die Sunnit*innen, die Afghan*innen und andere Minderheiten, die in der Islamischen Republik seit Jahrzehnten unterdrückt werden.
«Alle schauen auf die Frauen, denn sie sind die Anführerinnen. Das ist grossartig.» Demonstrantin in Teheran
Eine Frau aus Teheran, die sich seit Beginn an den Protesten beteiligt, schildert ihre Beobachtungen: «Alle sind auf den Strassen. Und die Frauen sind ganz vorne mit dabei. Alle schauen auf die Frauen, denn sie sind die Anführerinnen. Das ist grossartig.»
Frauenhass als Staatsdoktrin
Um die Stärke des Widerstands zu verstehen, muss man die Wucht der Unterdrückung der Frauen im Iran kennen. Sie sind rechtlich nur die Hälfte eines Mannes wert. Vor Gericht müssen zwei Frauen aussagen, um der Aussage eines Mannes gleichzukommen. Frauen können sich nicht einfach scheiden lassen, den Männern steht das Sorgerecht für die Kinder zu. Bekannt ist auch, dass Frauen weder öffentlich singen noch tanzen dürfen, dass sie sich verschleiern und sich den Kleidervorschriften beugen müssen.
Doch was heisst das für den moralischen und gesellschaftlichen Stellenwert eines Frauenlebens? Der Geistliche Sadegh Husseini Shirasi drückte es einmal so aus: Gott habe drei Arten von Tieren geschaffen. Zum einen Tiere, die dafür geschaffen wurden, die Menschen zu transportieren, wie Pferde und Kamele. Zum zweiten Tiere, die erschaffen wurden, um die Menschen zu ernähren, wie Schafe, Ziegen und Kühe. Die dritte Art seien die Frauen. Wie Schafe, Ziegen und Kühe seien sie geschaffen worden, damit Männer sie benutzen könnten. Gott habe diesen Tieren das Aussehen von Frauen gegeben, damit Männer keine Angst vor ihnen haben müssten.
Für die Regierung ist das Gerede von Freiheitsrechten und universellen Werten aus dem Westen importiert und Ausdruck einer verkommenen Sexualmoral.
Shirasi ist nicht irgendein Kleriker; er ist im Iran bekannt und einflussreich. Sein misogyner und menschenverachtender Blick auf Frauen ist repräsentativ für theologische Fundamentalisten, er wurde zur Staatsdoktrin. Wenn Frauen fundamentale Rechte einfordern, gelten sie als «promiskuitiv», als «Prostituierte». Indem Frauen als Objekte angesehen werden, sind sie systematischer sexueller Gewalt ausgesetzt. Männer lernen, dass sie Frauen vergewaltigen und ermorden dürfen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Für die Regierung ist das Gerede von Freiheitsrechten und universellen Werten aus dem Westen importiert und Ausdruck einer verkommenen Sexualmoral. Dies müsse bestraft werden.
Die iranische Führung und alle Angehörigen des Führungs- und Machtzirkels konnten ihren Frauenhass jahrzehntelang vor den Augen der Welt verstecken. Sie galten als anerkannte Gesprächspartner, als Teil der internationalen Gemeinschaft. Diese Zeiten sind vorbei.
Unterstützung von den Männern
Es ist auch diese perverse Logik der Machthabenden, welcher sich die Menschen mit der Forderung «Frau, Leben, Freiheit» widersetzen. Denn sie wissen genau, dass der Grad der Freiheit der Frauen den Grad der Freiheit aller bestimmt. Deshalb kämpfen auch Männer mit, die eigentlich Nutzniesser des Patriarchats sind. So zeigt ein Video, das sich rasch in den Online- Netzwerken verbreitete, einen Mann, der mit einem Strauss Blumen durch die Strassen geht und jeder Frau, die kein Kopftuch trägt, eine Blume schenkt mit den Worten: «Danke, dass du die Stadt mit deinen Haaren schöner machst.» Viele Männer haben verstanden: Frauenrechte sind Menschenrechte.