© André Gottschalk
© André Gottschalk

MAGAZIN AMNESTY Amnesty-Magazin März 2023: Carte blanche IST LUISA HIER?*

Carte Blanche von Annika Biedermann. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2023.
Gewisse Orte setzen auf Codewörter, um Frauen in Not zu helfen. Gemäss Slam-Poetin Annika Biedermann eine beruhigende Gewissheit und eine alarmierende Notwendigkeit.

Ich weiss nicht, wann ich Luisa zum ersten Mal begegnete,
aber ich weiss, dass ich sie brauch.
Als Begleitung in der Nacht,
Klarheit zwischen Schall und Rauch.

Doch Luisa ist nicht immer da.
Wie ich spüre, wenn sie fehlt.
Wenn man sich traut, nach ihr zu fragen,
ist es manchmal schon zu spät.

Sie fehlt mir an so vielen Orten,
Auf der Strasse, im Zug,
Auf mich fällt die Verantwortung,
die Luisa trug.

Eine Frau kommt zu mir, setzt zur Umarmung an,
Ich frage nicht, nehme sie in den Arm und dann,
sind wir auf besondere Art verbunden.
Luisa, sagt sie, ich dachte, du seist verschwunden.

Ich bin Luisa, zumindest in dem Moment,
und gebe ihr zu verstehen:
Bleib bei mir, ganz ungehemmt,
Ich bin bei dir, bis sie gehen.
Willst du ein Glas Wasser oder lieber tanzen?
Soll ich dir ein Taxi rufen und weg hier von dem Ganzen?

Wer auch immer dir gefolgt ist,
wie auch immer er pfiff:
Das ist kein Kompliment,
Das ist ein Übergriff.
Worum auch immer er dich bat,
du brauchst dafür keine Geduld,
Was auch immer er dir tat,
es ist nicht deine Schuld.

Sie traut sich nicht, es zu sagen, es sei ja nichts passiert,
Das müsse sie halt ertragen, sonst hätte sie sich blamiert.
Ich gebe ihr zu verstehen: Was sie empfindet, das ist echt;
Warum sonst setzt es dich stundenlang ausser Gefecht?

Luisa glaubt dir,
Sie ist wie eine beste Freundin, wie eine Schwester, und
Vor allem kommt Luisa leichter über die Lippen als
Hilfe, ich erlebe sexuelle Belästigung.

Der Name Luisa hat einen Kopfton,
damit man ihn auch in lauten Umgebungen gut versteht.
Luisa ist das Codewort,
wenn es nicht mehr geht.

Manchmal bin ich Luisa, manchmal sehn ich mich nach ihr,
Nach der Gewissheit, einfach sein zu können, ohne dass etwas passiert.

Wo ist Luisa?, denke ich,
werden Grenzen überschritten.
Stattdessen laufe ich mit Schlüssel in der Hand
und mit schnellen Schritten.
Warum kann ich nicht Luisas Hand greifen,
wenn ich diesen Blick im Nacken spür?
Warum sitzt Luisa nicht in meinem Abteil,
wenn jemand mein Knie berührt?

Mein Körper gehört mir, doch oft fühlt es sich nicht so an.
Manchmal kleben fremde Hände oder Blicke an mir dran,
So sehr, dass ich ihn verlier.
Im Moment der lüsternen Blicke
gehört mein Körper nicht mehr mir.

Komm, wir verbünden uns, bilden Banden,
Sind füreinander da, kommt einer ihr Körper abhanden.
Luisa ist hier, Luisa kämpft,
aber bekämpft nur ein Symptom,
Luisa ist ein kleines Pflaster für ein riesiges Problem,
Ein winziger Hebel gegen ein patriarchales System.

Komm, wir halten einander den Rücken frei
und hören aufs Gefühl im Bauch,
Lasst uns alle Luisa sein,
damit es Luisa nicht mehr braucht.


*Mit dem Codewort «Luisa» können Frauen, die sich bedrängt, belästigt oder aus anderen Gründen unwohl fühlen, in Nachtclubs oder Bars Hilfe anfordern.