Das Bild ging um die Welt: Es symbolisiert den aktuellen kurdischen Widerstand gegen die Regierung in Teheran. © Private
Das Bild ging um die Welt: Es symbolisiert den aktuellen kurdischen Widerstand gegen die Regierung in Teheran. © Private

MAGAZIN AMNESTY Amnesty-Magazin März 2023: Iran Tradition des Widerstands

Von Hêlîn Dirik. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2022.
Die Diskriminierung von Kurd*innen reicht im Iran sehr weit. Wenig überraschend protestieren Kurd*innen an vorderster Front gegen die iranische Führung.

Frau, Leben, Freiheit – dieser Slogan prägt die Proteste im Iran, wurde zur Hymne für eine Frauenrevolution. Seinen Ursprung hat der Ruf nach Gerechtigkeit in Kurdistan, dem Geburtsort und Motor der derzeitigen Revolution im Iran. Ausgelöst wurden die Proteste – aus denen ein landesweiter Aufstand wurde – durch den Tod einer jungen Kurdin: Jina Mahsa Amini. Die 22-Jährige starb am 16. September in Polizeigewahrsam, nachdem sie von der iranischen «Sittenpolizei» schwer misshandelt worden war. Bei ihrer Beisetzung in ihrer kurdischen Heimatstadt Seqiz* versammelten sich Tausende Menschen, um gegen die iranische Führung zu protestieren. Sie alle skandierten: «Jin Jiyan Azadi» (auf deutsch: Frau, Leben, Freiheit), einen Slogan, der danach um die Welt ging.

Mehrheitlich junge Menschen gingen nach dem Tod von Jina Mahsa Amini in über achtzig Städten des Iran auf die Strassen, in allen 31 Provinzen des Landes wurde zum Sturz der Regierung in Teheran aufgerufen. Frauen wehrten sich überall gegen die Zwangsverschleierung und die repressive Politik, verbrannten Kopftücher, schnitten sich die Haare ab. Eine solche Protestaktion gegen die Unterdrückung der Frauen im islamischen Gottesstaat hatte es noch nie gegeben.

Zentrum der Revolution

Der Slogan «Jin Jiyan Azadi» geht auf die kurdische Befreiungsbewegung zurück, die seit über 40 Jahren gegen die Ausbeutung und Unterdrückung der Kurd*innen durch Syrien, den Irak, die Türkei und den Iran sowie für die Befreiung der Frauen kämpft. Bekanntheit erlangte die Parole auch durch die Frauenrevolution in Rojava in Nordsyrien, wo die Frauenverteidigungseinheiten YPJ gegen den Islamischen Staat (IS) kämpften. In den letzten zehn Jahren arbeiteten viele Menschen hier an gesellschaftlichen Projekten, die auf den Prinzipien Ökologie, Feminismus und Basisdemokratie basieren. Die aus dem kurdischen Kirmaşan stammende Aktivistin Sana zeigt sich erstaunt über die rasche Verbreitung des Slogans in den jüngsten Protesten. «Ich hätte nie geglaubt, dass ‹Jin Jiyan Azadi› ein zentraler revolutionärer Slogan im Iran werden würde. Im Iran haben Frauen keine Rechte und keine Stimme. Es ist erstaunlich, zu beobachten, dass Teile der iranischen Gesellschaft, die bisher immer gegen uns waren, nun auch diese Parole rufen», sagt sie. Sie sieht in den Aufständen in Kurdistan das Potenzial, die Zukunft des Iran massgeblich zu beeinflussen.

Kurd*innen werden im Iran besonders stark diskriminiert. Selbst kurdische Namen sind verpönt. So durfte auch Jina Mahsa Amini ihren kurdischen Namen Jina nicht benutzen.

Für Sanaz, eine 30-jährige kurdische Aktivistin aus der kurdischen Stadt Seqiz, stehen die drei Worte dieses Slogans − Frau, Leben und Freiheit − im radikalen Gegensatz zur kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Unterdrückung, die vom Staat ausgeht. Kurd*innen werden im Iran besonders stark diskriminiert – die kurdische Sprache ist de facto verboten, staatliche Ausgaben sind in kurdischen Gebieten deutlich tiefer als in den übrigen Provinzen. Selbst kurdische Namen sind verpönt. So durfte auch Jina Mahsa Amini ihren kurdischen Namen Jina nicht benutzen.

Widerstand gegen diese Diskriminierung hat in Kurdistan eine lange Tradition. Kurd*innen sind im Iran schon seit Jahrzehnten politisch organisiert. Bereits während der Herrschaft der Schahdynastie der Pahlavis wurden Kurd*innen unterdrückt und leisteten bewaffneten Widerstand dagegen.

Die Führung in Teheran greift gerne zum Vorwurf des Separatismus, wenn Kurd*innen, die rund 10 Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen, zu protestieren beginnen. Dieser Vorwurf und die Brutalität, mit der die iranischen Regierungen in der Vergangenheit gegen Kritiker*innen vorgingen, etwa nach der Islamischen Revolution von 1979, als zahlreiche Kurd*innen aussergerichtlich hingerichtet wurden, reichten nicht, um die Solidarität mit den Protesten nach Jina Mahsa Aminis Tod im Keim zu ersticken. Das Potenzial dieser Widerstandstradition der kurdischen Bevölkerung war den iranischen Autoritäten wohl bewusst, als sie im Vorfeld der Beisetzung Jina Mahsa Aminis versuchten, eine öffentliche Zeremonie und damit auch Massenproteste zu verhindern, und ihren Angehörigen mit Repressionen drohten. Doch den landesweiten Aufstand, der durch den Tod einer jungen Frau ausgelöst wurde – noch dazu einer Angehörigen einer ethnischen Minderheit –, konnten sie nicht mehr aufhalten.

Die kurdischen Gebiete und die Provinz Sistan-Belutschistan im Südosten des Landes, wo viel Armut herrscht und die Mehrheit der Bevölkerung der sunnitischen Minderheit angehört, sind nun Zentren der Revolution. Auf den Strassen kurdischer Städte wie Mehabad, Sine oder Bokan wehren sich Menschen seit Monaten entschlossen gegen die Sicherheitskräfte. Es wird wöchentlich gestreikt, und in vielen Vierteln bilden sich revolutionäre Jugendgruppen. Parolen wie «Kurdistan wird das Grab der Faschisten sein» sind in zahlreichen auf Twitter geteilten Videos von den Protesten zu lesen.

Repression über die Grenzen hinweg

Gegen all jene, die diese Revolution anführen, geht die Regierung mit heftiger Gewalt vor. Laut Angaben des Kurdistan Human Rights Network wurden seit Beginn der Proteste über 120 kurdische Demonstrant*innen von iranischen Sicherheitskräften getötet. Einer der vier Menschen, die im Zusammenhang mit den Protesten nach einem Todesurteil hingerichtet wurden (bis Redaktionsschluss), war der 22-jährige Kurde Mehdi Karami. Unter den über 100 Protestierenden, denen die Hinrichtung droht, sind insbesondere Kurd*innen und Belutsch*innen. Es gibt zudem täglich Meldungen über Verhaftungen und Entführungen kurdischer Demonstrant*innen, über deren Verbleib es keine Informationen gibt.

Unter den über 100 Protestierenden, denen die Hinrichtung droht, sind insbesondere Kurd*innen und Belutsch*innen.

Die Gewalt des Systems eskaliert besonders da, wo die Bevölkerung in Massen auf die Strassen geht. Im kurdischen Bokan besetzten Protestierende im November das Rathaus und mehrere Regierungsgebäude. Die Sicherheitskräfte reagierten darauf mit tödlichen Schüssen auf Demonstrant*innen und der vermehrten Entsendung von Truppen in kurdische Städte. Auch nach Gedenkprotesten für ermordete Demonstrant*innen am 31. Dezember in der Stadt Jawanrud wurden die Repressionen intensiviert: In den zwei darauffolgenden Wochen wurden laut der Menschenrechtsorganisation Hengaw mindestens 40 Kurd*innen aus Jawanrud verschleppt.

Die Gewalt der iranischen Regierung gegen Kurd*innen beschränkt sich jedoch nicht auf das Inland. Am 24. September, als es der Bevölkerung in der kurdischen Grenzstadt Şino (Oshnavieh) gelungen war, die Sicherheitskräfte der Regierung vorübergehend zu vertreiben, begann die iranische Revolutionsgarde (IRGC) in Südkurdistan (Nordirak) Stützpunkte kurdisch-iranischer Exilparteien zu bombardieren. Dabei wurde auch eine Siedlung von Geflüchteten aus dem Iran in der kurdisch-irakischen Stadt Koya getroffen. Bei den wiederholten Angriffen wurden Parteimitglieder, ihre Angehörigen, Zivilist*innen sowie Journalist*innen getötet.

Die Behörden in Teheran warfen den kurdischen Parteien vor, für die Unruhen im Iran verantwortlich zu sein und die Aufstände zu organisieren. Schon seit Jahrzehnten stellen sie jegliche kurdische Bewegung als terroristische, separatistische Verschwörung dar und dämonisieren sie damit. Kurd*innen werden im Iran immer wieder unter diesen Anschuldigungen verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die jüngste Behauptung des hochrangigen iranischen Klerikers Ahmad Khatami, dass Kurdisch «die offizielle Sprache der Hölle» sei, unterstreicht die antikurdische Haltung der Mullahs in Teheran.

Kurdische Parteien werteten die Angriffe in Südkurdistan als Manöver, um zu verhindern, dass der Aufstand in den kurdischen Gebieten grössere Ausmasse annimmt. Zudem wolle Teheran damit von der Tatsache ablenken, dass die Bereitschaft, gegen die islamische Regierung aufzubegehren, nicht auf die kurdischen Gebiete beschränkt ist. Auch die Aktivistin Sanaz sagt: «Das Regime hat Angst davor, dass sich Menschen in anderen Teilen des Landes ein Beispiel an Kurdistan nehmen. Weder dieses Regime noch vorherige wollten dies zulassen. Denn Kurdistan war schon immer eine Quelle fortschrittlicher und revolutionärer Ideen.»

Das harte Vorgehen der Regierung gegen die Demonstrant* innen konnte dennoch nicht verhindern, dass der Tod von Jina Mahsa Amini eine landesweite multiethnische Solidarität hervorgebracht hat, und ein kurdischer Slogan zum Motto einer neuen Generation im Iran wurde, die vehement einen politischen Wandel fordert.

Auf die Frage nach Perspektiven für die Zukunft des Iran antwortet Sanaz kurz und klar: «Direkte Demokratie durch ein Rätesystem ist der einzig sichtbare Ausblick für mich.» Sana dagegen betont auch die Notwendigkeit einer grundlegenden Transformation der Gesellschaft: «Die Grausamkeit geht nicht nur vom Regime aus. Die Gesellschaft als Ganzes muss sich ändern. Frauen müssen sich auch gegen ihre Ehemänner, Partner, Väter und Familienmitglieder wehren. Dazu braucht es viel Zeit, Geduld und Arbeit. Es wird noch ein langer Kampf – und wir alle müssen zu Freiheitskämpfer* innen werden.»


*In diesem Text haben wir die kurdische Schreibweise für Ortschaften in der Provinz Kurdistan im Iran verwendet.