«Es ist verheerend für die Rechte der Bevölkerung, dass wir nach fast zwanzig Jahren schliessen müssen», sagt Marva Sadler, Direktorin für klinische Dienste bei Whole Women’s Health. Das private Unternehmen, das Schwangerschaftsabbrüche anbietet, hatte keine andere Wahl, als vier Kliniken in Texas zu schliessen, seit hier Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stehen. Um den Menschen im Süden der USA weiterhin Zugang zu reproduktiven Rechten zu gewähren, sammelt die Einrichtung jetzt Spenden für die Eröffnung einer neuen Klinik im Nachbarstaat New Mexico.
Wie Marva Sadlers Klinik mussten im ganzen Land bereits 66 weitere Institutionen den Laden dichtmachen. Am 24. Juni 2022 hat der Oberste Gerichtshof der USA das Urteil «Roe vs. Wade» aufgehoben, das seit 1973 das Recht auf Schwangerschaftsabbruch auf Bundesebene garantiert hatte.
Seither kann jeder Bundesstaat selbst entscheiden, ob er die Praxis legalisiert oder nicht. Lange dauerte es nicht, bis 12 konservativ regierte Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche auf ihrem Territorium vollständig verboten: Texas, Alabama, Arkansas, Idaho, Kentucky, Louisiana, Missouri, Oklahoma, South Dakota, Tennessee, West Virginia, Mississippi. Andere Bundesstaaten schränkten das Recht auf Schwangerschaftsabbruch stark ein, so zum Beispiel Georgia, wo Abbrüche nur noch bis zur sechsten Schwangerschaftswoche erlaubt sind, obwohl die meisten Betroffenen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind. In elf weiteren Bundesstaaten besteht die Gefahr, dass das Recht auf Schwangerschaftsabbruch eingeschränkt wird, mehrere Staaten befinden sich diesbezüglich noch in einem Rechtsstreit.
Mehrere Klagen, mit denen Schwangerschaftsabbrüche verboten oder drastisch eingeschränkt werden sollten, wurden von den Gerichten abgewiesen, sodass die Kliniken − zumindest vorübergehend − ihre Arbeit fortsetzen konnten. Dies gilt beispielsweise für Indiana, wo der Oberste Gerichtshof im Oktober letzten Jahres ein Moratorium für das fast vollständige Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen verhängte. Bis das Oberste Gericht in Indiana über die Verfassungsmässigkeit des Gesetzes entschieden hat, dürfen somit weiter Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden.
Ungleicher Zugang
Organisationen, die sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch engagieren, mussten ihre Aktivitäten anpassen. «Wir haben unsere Informations- und Aufklärungsarbeit intensiviert, um sicherzustellen, dass jede betroffene Person ihre Optionen kennt», sagt Marva Sadler. Ein weiterer Schwerpunkt wurde ausserdem das Lobbying bei Politiker*innen und Gerichten.
Insbesondere Organisationen, die finanzielle Unterstützung anbieten, sind gefragt. Denn viele Schwangere müssen Hunderte von Kilometern zurücklegen, um in einen Staat zu gelangen, der ihnen einen Schwangerschaftsabbruch ermöglicht. «Eine Abtreibung kostet viel Geld. Das kann von 500 bis zu 2500 Dollar gehen », sagt Marva Sadler. Zu den medizinischen Kosten kommen Reisekosten, Unterkunft, die Folgen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz und manchmal auch Kinderbetreuungskosten hinzu. Laut einer Studie der «New York Times» können sich die gesamten Kosten auf über 4000 US-Dollar belaufen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass auch in den meisten Staaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche legal sind, die Kosten nicht von den Versicherungen übernommen werden. Von diesen Problemen sind insbesondere People of Colour, Arme und Migrant*innen ohne Aufenthaltsgenehmigung betroffen.
Der ungleiche Zugang zu qualitativ hochwertigen Familienplanungsdiensten, Misstrauen gegenüber dem medizinischen System und ökonomische Benachteiligung führen gemäss dem Center for Disease Control and Prevention dazu, dass die Rate von Schwangerschaftsabbrüchen bei Schwarzen Frauen fast viermal so hoch und bei Frauen hispanischer Abstammung fast doppelt so hoch ist wie bei weiss Frauen – so die Daten von 2019. Die Direktorin für klinische Dienste bei Whole Women’s Health sagt: «Wir haben als Land versagt. Wir leben in einer polarisierten Gesellschaft, in der einige Menschen Zugang zu ihren reproduktiven Rechten haben, aber nicht die am stärksten Benachteiligten.»
Nachbarstaaten als Helfer
In rund 20 US-Bundesstaaten ist der Schwangerschaftsabbruch nach wie vor legal, doch manchmal ist es einfacher, nach Kanada oder Mexiko zu reisen. Die feministische mexikanische Organisation Las Libres kann dies bestätigen. Die Nachfrage sei sprunghaft angestiegen, sagt die Vorsitzende Verónica Cruz: «Vor der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs kamen die Anfragen aus angrenzenden Bundesstaaten. Jetzt kommen die mehr als 100 Anrufe pro Woche aus den ganzen USA.»
Die Organisation Las Libres ist seit 22 Jahren tätig und berät und begleitet Menschen, die einen Schwangerschaftsabbruch wünschen. Dieser ist in Mexiko seit 2021 entkriminalisiert. Seit der Aufhebung von «Roe vs. Wade» unterstützt die Organisation auch US-Amerikaner*innen. Wenn man ihr vor zehn Jahren gesagt hätte, dass Mexiko seinem Nachbarland unter die Arme greifen würde, hätte Verónica Cruz keine Sekunde daran geglaubt. «Lange Zeit war es genau umgekehrt. Aber zur heutigen Situation kam es nicht über Nacht: Schwangerschaftsabbrüche waren in den USA schon immer umstritten. Die Barrieren für den Zugang wurden nach und nach aufgebaut.»
Las Libres hat zwar ein starkes Netzwerk von fortschrittlichen Kliniken aufgebaut, doch das Hauptangebot sind die Abtreibungspillen. Kritik an dieser nichtchirurgischen Methode des Abbruchs wischt Verónica Cruz beiseite. «Wir bieten die Abtreibungspille seit über 20 Jahren an. Die Mehrheit bevorzugt sie, da sie einfach in der Anwendung, weniger einschneidend und sicher ist und von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen wird.»
Ungewollt Schwangere aus den USA kamen nach den Verboten von Schwangerschaftsabbrüchen nach Mexiko, um das Medikament zu beschaffen. Doch der Handel mit Abtreibungspillen scheint sich nun in den USA zu demokratisieren: Die Biden-Regierung hat Anfang Januar mit Zustimmung der Food and Drug Administration entschieden, ihren Verkauf in amerikanischen Apotheken zuzulassen. Die Pillen sind in den USA jedoch weiterhin verschreibungspflichtig und überteuert − nach Angaben der US-amerikanischen Familienplanungsbehörde kosten sie zwischen 580 und 800 Dollar. In Mexiko gibt es sie für etwa 20 Dollar, rezeptfrei. «Mexiko hat lange Zeit einen heuchlerischen Diskurs geführt: Abtreibung wurde kriminalisiert, aber Misoprostol war frei erhältlich. Dadurch konnten Frauen die Schwangerschaft abbrechen, ohne dass der Staat dafür öffentliche Einrichtungen schaffen musste», erklärt Verónica Cruz.
Für diejenigen, die die Pillen nicht in Mexiko besorgen können, sei es aufgrund ihres Aufenthaltsstatus oder aus finanziellen Gründen, hat Las Libres ein System entwickelt: Freiwillige – hauptsächlich US-Amerikaner* innen – reisen zwischen den Ländern hin und her und geben die Pillen kostenlos an diejenigen weiter, die sie wünschen. Alles geschieht anonym, aus Sicherheitsgründen.
Die Verfechter*innen des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in den USA betonen, dass sie weiterkämpfen werden. So auch Marva Sadler, die seit 17 Jahren im Gesundheitswesen tätig ist. «Es ist unerträglich, dass ich nicht in der Lage bin, Hilfe zu leisten. Es wird lange dauern, aber wir werden alles tun, um reproduktive Gerechtigkeit zu gewährleisten.»