© Klaus Petrus
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MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2023: Kultur Am Rand

Von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2023.
Geschichten von Abgehängten, Unsichtbaren, Getriebenen erzählt der Journalist und Fotograf Klaus Petrus in seinem Buch «Am Rand». Ein Gespräch über die Entstehung der Porträts und Fotos von Menschen, die alle irgendwie aus der Norm fallen.

Das kleine, dicke Buch, das in der Jackentasche Platz haben sollte, wie der Autor Klaus Petrus sagt, scheint keine fixe Struktur zu haben. Auf kürzere Texte folgen längere Lebenserzählungen und Reportagen, manchmal sind es auch einfach Schwarz-Weiss-Bilder und Zitate, die aus dem Leben von 14 Personen berichten. Der Autor fungiert mal als Protokollant, dann als Erzähler, dann wieder als Gesprächspartner. So lernen wir die Rentnerin Lotti kennen, die in der Stadt Abfallkübel nach Brauchbarem durchsucht und ganz genau bestimmt, was aus ihrem Leben erzählt werden darf. Sie gibt einen Eindruck davon, was es heisst, unter Altersarmut zu leiden und doch die Würde zu wahren. Vor allem anhand von Bildern tauchen wir ein in die Welt des aus Afghanistan geflüchteten Journalisten, der am Ende in der Schweiz gestrandet ist und nicht weiss, was er hier soll. Auch über die Sexarbeiterin aus Thailand erfahren wir mehr durch die Fotos denn durch Worte, diese gehen aber mindestens genauso unter die Haut.

AMNESTY: Was hat Sie zu diesen Menschen «Am Rand» geführt?

Klaus Petrus: Mich beschäftigen schon länger die Vorurteile, die wir über Menschen und Personengruppen haben, und wie diese entstehen. Ich begann mich immer mehr für die Bilder in unseren Köpfen zu interessieren, die wir von Menschen haben, die gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen. Die Menschen in den Geschichten des Buches brechen alle auf die eine oder andere Art diese Normen.

Der Autor gibt den Porträtierten in oft sehr direkter und gleichzeitig einfühlsamer Sprache eine Stimme. Wobei er meint: «Ich halte nicht viel von diesem Anspruch, anderen eine Stimme zu geben. Natürlich könnten sie für sich selbst reden. Nur, sie haben keine Position, nichts, das ihnen erlauben würde, aus ihrem Leben zu berichten.» Er sei sich seiner privilegierten Situation sehr bewusst, es blieb ein Problem bei den Recherchen. Dennoch gelang es ihm, ganz nah an diese Menschen heranzukommen und bei den Leser*innen ebenfalls eine gewisse Nähe zu schaffen.

Wie haben Sie es geschafft, dass sich Ihre Gegenüber öffneten und aus ihrem Leben erzählten?

Es brauchte sehr viel Zeit, bis sich ein Vertrauensverhältnis aufbaute. Ich war von Anfang an transparent, indem ich deutlich machte, was das Ziel der Gespräche ist. Und dann wurde natürlich sehr viel geredet. So sprachen wir stundenlang über Fussball, über Tattoos oder sonst etwas. Dabei habe ich auch recht viel über mich preisgegeben. Die meisten traf ich mehrmals über einen längeren Zeitraum, das Verhältnis zwischen uns änderte sich mit der Zeit. Ich nahm auch erst sehr spät die Kamera hervor. So hat also jedes Porträt eine eigene Entstehungsgeschichte? Ja, aber an alle Geschichten bin ich mit dem gleichen Interesse rangegangen, eben mit der Frage nach den Bildern im Kopf. Und vor allem mit der Frage, wie man mit der Scham umgeht. Ich glaube, letztlich ist es ein Buch über Scham.

Scham enthüllt sich als das zentrale Thema des Buches: die Not, das eigene Leben verstecken zu müssen, von den anderen «bewertet», ja abgewertet zu werden, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Es sind allerdings nicht nur Geschichten von Menschen, die allgemein oft als «Randständige» bezeichnet werden, sondern auch von Menschen wie der mit Adipositas lebenden Benita oder der an Schizophrenie erkrankten Mutter, die beinahe ihr Kind tötet. Ausserdem geht es um Geschichten von Menschen, deren Verhalten nicht der gängigen Sexualmoral der Normgesellschaft entspricht: Da gibt es den Freier, der ein Doppelleben führt, oder um die Diplompsychologin Dorothea, die einmal im Monat spezielle sexuelle Vorlieben von Männern bedient. Menschen also, die gesellschaftliche Normen und Regeln anders durchbrechen, als dass sie durch die sozioökonomischen Maschen der Gesellschaft gefallen wären.

Im Buch porträtieren Sie auch Menschen, die ein durchaus bürgerliches Leben führen, die aber im Privaten ein Verhalten an den Tag legen, das nicht der gängigen Moral entspricht: Diese Menschen werden aber doch gesellschaftlich nicht gleich stigmatisiert wie Arbeitslose oder Trinker*innen?

Bei allen stellt sich ist aber die Frage: Wie versuchen die Menschen, sich in diesen tabuisierten Zonen zu bewegen? So müssen ja auch der Freier und Dorothea ihre Neigungen verstecken, ein Doppelleben führen. Doch die Frau mit ihrem speziellen Hobby wird von der Gesellschaft anders bewertet als der Obdachlose. Daran zeigt sich, wie sehr der Begriff der Normalität von den eigenen Werten bestimmt wird und dass wir sehr klare Vorstellungen davon haben, was die Mitglieder unserer Gesellschaft zu leisten haben. Das war eine der grössten Herausforderungen beim Schreiben dieses Buches: Wie vermeide ich es, meine eigene Haltung durchscheinen zu lassen? Wie gehe ich dabei mit meinen eigenen Werten um?

Wie gelang Ihnen der Spagat zwischen professioneller Distanz und ausreichend Empathie, um sich in diese Menschen einfühlen zu können?

Ich habe keine Technik für diesen Balanceakt. Manchmal gelingt er mir auch nicht. Aber ohne Empathie und Neugier kann man andere Menschen nicht verstehen, kann sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ist. Dafür muss man die Bilder im Kopf wegschieben. Es braucht viel Offenheit, damit neue Bilder entstehen können.

Die politischen Themen hinter den Lebensgeschichten werden nicht direkt angesprochen, sie werden vielmehr durch den Alltag deutlich, den die Porträtierten bewältigen. Am Ende des Buches stellt Klaus Petrus hierzu Fakten und Zahlen zusammen und kontextualisiert so den Hintergrund der Porträts.

Hat das Buch eine politische Botschaft?

Ich weiss es nicht. Das war zumindest nicht mein Ziel. Vielleicht ist es ein Appell, das Menschliche nicht zu verlieren, wenn man solchen Leuten begegnet. Aber ich hätte diese Geschichten so oder so geschrieben, auch ohne politischen Hintergrund.

Jede der porträtierten Personen wünschte sich wohl eine bessere Lebenssituation. Dadurch, dass sie «am Rande» sind, entsteht doch automatisch eine politische Forderung, nämlich dass es diesen Rand nicht geben sollte.

Ja, die Gespräche kamen tatsächlich immer an den Punkt, wo ich mich fragte: Wie wäre es besser, zumindest einfacher? Alle Porträtierten hatten klare Vorstellungen darüber geäussert, was verändert werden müsste. Diese «Wunschzettel» – wenn man sie so nennen will – machten vor allem eines deutlich: Wie aufwendig es ist, an diesem Rand zu leben und sich oder seine Lebensweise verstecken zu müssen.