Gegen die geplante Rentenreform gingen in ganz Frankreich Hundertausende auf die Strasse. © IMAGO / Samuel Boivin
Gegen die geplante Rentenreform gingen in ganz Frankreich Hundertausende auf die Strasse. © IMAGO / Samuel Boivin

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-MAGAZIN JUNI 2023: RECHT AUF PROTEST Demonstrieren – ein Teil der französischen DNA?

Von Jean-Marie Banderet. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2023.
Die Mobilisierung gegen die Rentenreform in Frankreich erreichte ein Ausmass wie seit 1995 nicht mehr. Welche Rolle spielt das politische System, das Frankreich zur Nation des Protests zu machen scheint?

Wenn Sie ein europäisches Land nennen müssten, in dem das Demonstrieren die üblichste Form des Protests ist, welches würden Sie wählen? Aufgrund der grossen Zahl von breiteren Protestbewegungen wird Frankreich zweifellos ganz oben auf der Liste stehen. Proteste mit über einer Million Teilnehmer*innen prägen das Frankreich des 21. Jahrhunderts: Man erinnere sich an die Gelbwestenbewegung 2018 und 2019, an frühere Demonstrationen gegen den Rentengesetzentwurf von 2010 oder gegen Nicolas Sarkozys Arbeitsmarktreform 2006. Insgesamt gab es seit 2002 mehr als 25 verschiedene Momente, in denen es zu einer Massenmobilisierung auf der Strasse kam. Doch schon früher haben französische Massenproteste weit über das Land hinaus ausgestrahlt – unvergessen bleiben diejenigen aus dem Jahr 1968. Sollte man Frankreich deshalb als «Land der Demonstrationen» betrachten?

«Der französische Staat bietet nur wenig institutionelle Wege, um die Forderungen und Meinungen der Mitbürger*innen einzubeziehen.» Florence Passy, ausserordentliche Professorin am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Lausanne

In der Schweiz war der Frauenstreik von 2019 mit einer halben Million Menschen oder die Demonstration gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz von 2004, an der in Bern rund 100'000 Menschen teilnahmen, im Vergleich weitaus bescheidener. Ein Unterschied, der sich nicht nur durch die Bevölkerungszahl, sondern vor allem durch die sehr unterschiedlichen politischen Institutionen erklären lässt. «In der Schweiz haben wir einen Bundesstaat und eine direkte Demokratie mit vielen Möglichkeiten, sich politisch zu äussern », sagt die Soziologin Florence Passy, ausserordentliche Professorin am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Lausanne. «Im Dialog zwischen Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften können so viele Konflikte gelöst werden. Nur als letztes Mittel gehen die Gewerkschaften auf die Strasse. Der französische Staat bietet hingegen nur wenig institutionelle Wege, um die Forderungen und Meinungen der Mitbürger*innen einzubeziehen.» Darüber hinaus würden in der französischen Demokratie Stimmberechtigte als blosse Wähler*innen angesehen, die ihre Haltung nur bei Wahlen äussern sollten.

Die Ursprünge der Demonstration

Die Französische Revolution werde zwar oft als historische Referenz herangezogen, doch der Ursprung der Demonstrationen in der Form, wie wir sie heute in Frankreich sähen, sei nicht dort zu suchen, erklärt Danielle Tartakowsky, Historikerin und emeritierte Professorin an der Universität Paris 8. Denn im Kontext von 1789 fehle eine entscheidende Voraussetzung: das allgemeine Wahlrecht.

Laut der Expertin fand die erste richtige Demonstration in Paris im Jahr 1909 statt. Damals kam es in ganz Europa zu Protesten, nachdem der spanische Anarchist Francisco Ferrer verhaftet und zum Tode verurteilt worden war. In Paris endete ein von Anarchist*innen organisierter Demonstrationszug in einem Faustkampf mit der Polizei. Vier Tage nach dieser Auseinandersetzung, am 17. Oktober 1909, gingen bei der ersten friedlichen Demonstration in Frankreich zwischen 60'000 und 100'000 Menschen auf die Strasse. Die Demonstration war am Vortag angemeldet und von der Präfektur genehmigt worden. Die Sozialist*innen und Anarchist*innen, die die Demonstration organisierten, übernahmen auch den Ordnungsdienst, so dass die Polizei nicht eingriff.

Während im frühen 20. Jahrhundert Versammlungen auf öffentlichen Strassen in Frankreich verboten und von der Polizei systematisch unterdrückt wurden, waren andere europäische Staaten zu dieser Zeit weiter. Dies gilt insbesondere für Deutschland, das die Demonstrationsfreiheit 1848 in seinem Gesetz über die Grundrechte des deutschen Volkes verankerte.

Erfolge gefolgt von Misserfolgen

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Proteste zunehmend fester Bestandteil der französischen Demokratie. Danielle Tartakowsky sagt: «Etwa zwanzig Jahre lang, beginnend mit der ersten Amtszeit von François Mitterrand 1981, führten eine Reihe von Demonstrationen zu konkreten Veränderungen. In diesem Zeitraum hat sich die Demonstration allmählich de facto als Teil des Prozesses der Gesetzesausarbeitung durchgesetzt. » Zwischen 1984 und 2002 errangen die katholische Rechte, Vereine, Student*innen-Bewegungen und Gewerkschaften abwechselnd Siege.

«Interessanterweise beginnt dieser Prozess mit rechten Bewegungen, erstreckt sich aber über das gesamte politische Spektrum», sagt Danielle Tartakowsky. 1984 sah sich Präsident Mitterrand unter dem Druck einer starken Mobilisierung von rechts gezwungen, ein Gesetz zurückzuziehen, das die staatliche Finanzierung von Privatschulen einschränkte. Der Minister, der das Gesetz auf den Weg gebracht hatte, trat daraufhin zurück. Ähnliche Szenarien wiederholten sich im Laufe der Jahre bei anderen Gesetzen. Die sogenannten «Cohabitations» – also wenn der Staatspräsident und die stärkste Fraktion im Parlament zwei entgegengesetzten politischen Lagern angehören – schafften Lücken für Forderungen, die auf die Strasse getragen wurden.

2003 kam es zu einem Paradigmenwechsel: «Es ist nicht die Strasse, die regiert», proklamierte Premierminister Jean- Pierre Raffarin als Antwort auf die Gewerkschaftsdemonstrationen gegen einen erneuten Gesetzesentwurf zu den Renten. Seit dem Ende der ersten Amtszeit von Jacques Chirac im Jahr 2002 hatte es keine «Cohabitations» mehr gegeben. Ohne Konflikte zwischen Exekutive und Legislative endeten alle Mobilisierungen, ob von rechts (beispielsweise gegen die Ehe für alle) oder von links (hauptsächlich zu den Renten), mit Misserfolgen – mit Ausnahme des Erstanstellungsvertrags, der 2006 unter dem Druck von Schüler*innen und Gewerkschaften zurückgezogen wurde. Während dieser Zeit haben die Regierungen eine ganze Reihe von Reformen durchgesetzt, die soziale Errungenschaften beschnitten und zusätzliche Anforderungen an den Renteneintritt gestellt haben. «Doch mit Emmanuel Macron haben wir eine weitere Schwelle überschritten: Selbst Nicolas Sarkozy hatte es nicht gewagt, so weit zu gehen und die Gewerkschaften aussen vor zu lassen», sagt Danielle Tartakowsky. Für die Menschen in Frankreich hat dies das Fass zum Überlaufen gebracht – in Scharen gingen sie auf die Strasse.

«Das Demonstrieren ist aber nichts typisch Französisches. Es ist in Frankreich nur sichtbarer, weil es brennende Autos gibt.» Florence Passy

Érik Neveu, Soziologe und emeritierter Professor am Institut für politische Studien in Rennes, hält ein Resignieren der Demonstrant*innen für unwahrscheinlich. «Diese Bewegung hat die massive Ablehnung der Reform deutlich gemacht, das sieht man an den Demonstrationen, aber auch in den Umfragen und Stellungnahmen. Es ist schwierig, Prognosen über die Dauer der Proteste zu machen. Doch sie könnten noch lange weitergehen.» Florence Passy merkt jedoch an, dass die Organisation und die Finanzierung der Proteste eine grosse Hürde seien und viel Zeit in Anspruch nähmen. In Frankreich gebe es eine gewisse «Konfliktkultur», die auch in den Medien sichtbar sei. «Das Demonstrieren ist aber nichts typisch Französisches. Es ist in Frankreich nur sichtbarer, weil es brennende Autos gibt. In der Schweiz sind Proteste einfach diskreter; und sie sind erfolgreicher, weil die politischen Instrumente einen besseren Zugang zur Legislative erlauben.»