AMNESTY: Bevor Sie aus Afghanistan fliehen mussten, arbeiteten Sie für Women for Afghan Women (WAW). Können Sie uns kurz die Arbeit dieser NGO beschreiben?
Benafsha Efaf: Women for Afghan Women war mit bis zu 1200 Angestellten die grösste zivilgesellschaftliche Organisation Afghanistans. Unsere von Frauen geführte NGO bot Rechtsbeistand und Rechtsvertretung, psychosoziale und familiäre Beratung, Lebens- und Berufskurse an.
Wir führten verschiedene Arten von Schutzhäusern, so für Überlebende von Gewalt, aber auch Übergangsunterkünfte für Frauen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden. Denn nach dem Gefängnis endet die Strafe für die Frau nicht: Sie wird von ihrer Familie verstossen und von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert.
Wir leiteten auch Heime für die Kinder dieser Frauen, die ansonsten mit ihren Müttern im Gefängnis hätte leben müssen. Hinzu kamen die sogenannten Women Empowerment Center für Frauen, die in Rechtsstreitigkeiten mit ihren Familien verwickelt waren – zum Beispiel während Scheidungsprozessen. In Afghanistan hat man als Frau nicht das Recht, die Scheidung zu beantragen. Die Entscheidung über die Scheidung liegt beim Ehemann oder beim Gericht. Die Frau muss dem Gericht eine Vielzahl von Beweisen für ihre Scheidungsgründe vorlegen, die manchmal unmöglich zu erbringen sind. Wenn sich aber ein Mann scheiden lassen will, braucht er dafür keine Gründe anzugeben. Junge Frauen und Mädchen, die versuchen, vor Misshandlung in der Familie oder vor ihren Ehemännern zu fliehen, werden oft von der Polizei zu den Familien zurückgebracht. Frauen werden häufig des Ehebruchs bezichtigt. Auch nahm die Polizei junge Frauen oft zu Jungfräulichkeitstests mit, die des vorehelichen Geschlechtsverkehrs verdächtigt wurden – ein traumatischer Vorgang für die Betroffenen.
WAW war daher stark in der Arbeit mit den Behörden und in der Bewusstseinsbildung von Entscheidungsträgern engagiert. Unsere juristisch ausgebildeten Mitarbeiter*innen lobbyierten auf lokaler wie auf nationaler Ebene für frauengerechtere Gesetze und für die Implementierung der bestehenden Rechte. Wir versuchten, die gängigen Praktiken zu verändern – durch viel Aufklärungsarbeit. Das war eine sehr schwierige Aufgabe. Und sie war gefährlich, wir haben immer wieder Drohungen erhalten.
Wie reagierte Ihre Organisation, als die Taliban am 15. August 2021 in Kabul einmarschierten?
Das Land fiel ja nicht an einem Tag, die Taliban nahmen eine Provinz nach der anderen ein. Wir hatten bereits einen ausführlichen Notfallplan für die Sicherheit der Klientinnen und Mitarbeiter*innen erstellt. Die Taliban kannten unsere Arbeit – zum Teil von Fällen aus ihrer eigenen Familie. Wir erhielten manchmal Warnungen, so dass wir die Frauen rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.
Die Taliban haben einen sehr gut ausgestatteten Geheimdienst. Ihnen gelang es immer wieder, die geheimen Adressen unserer Schutzhäuser ausfindig zu machen. Wir hätten nie gedacht, dass Kabul so rasch fallen würde, doch nach einer Woche war die Hauptstadt eingenommen. WAW beschloss daraufhin, dass wir uns mit den Taliban zusammensetzen müssen. Ich war als Leiterin der Gruppe vorgesehen, weil ich geübt darin bin, auf der Basis des Koran für Frauenrechte zu argumentieren. Aber die Taliban wollten gar nicht erst mit mir sprechen, weil ich eine Frau bin. Sie wollten, dass ich meinen Ehemann delegiere!
Die Taliban nannten unsere Schutzzentren «Prostitutionshäuser» und verlangten von uns, dass wir für jede unserer Klientinnen einen Ehemann finden – auch wenn sie dann die Zweit- oder Drittfrau würden.
Nach ihrer Machtübernahme erliessen die Taliban neue Gesetze, die die Rechte der Frauen massiv einschränken: Frauen können das Haus nicht ohne männliche Begleitung verlassen, ihnen ist die höhere Schulbildung verwehrt und anderes mehr. Was bedeutet dies für die Arbeit von WAW?
Wir mussten die bisherigen Aktivitäten einstellen und den Fokus der Arbeit verändern. Wir fanden Lösungen für alle unsere Schutzbefohlenen, und die verbliebenen Mitarbeiter*innen kümmern sich um ihre Sicherheit. Nun bietet die Organisation vor allem humanitäre Hilfe und Gesundheitsprogramme für intern Vertriebene an.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie das Land verlassen mussten?
Als die Taliban Kabul erreichten, hatte ich noch Hoffnung, dass wir unsere Arbeit würden weiterführen können. Einmal kamen sie aber in unser Büro und befragten mich intensiv. Ich stand schon länger auf einer Todesliste und musste mich bereits einmal im Ausland in Sicherheit bringen. Nach diesem einschüchternden «Besuch» begann ich, meine Aufenthaltsorte ständig zu wechseln. Doch sie orteten mein Telefon, äusserten Drohungen.
Eines Tages riefen sie im Haus meines Vaters an, als ich dort war. Es war fürchterlich für meine Eltern, und mein Vater bat mich, das Land zu verlassen. Da wurde mir klar, dass ich ihnen zuliebe gehen musste, sie machten sich zu grosse Sorgen. Also nahmen wir ein Evakuierungsangebot an; wir hatten gerade mal zehn Minuten, um uns zu entscheiden.
Gemeinsam mit anderen Menschen in Gefahr verliessen mein Mann, meine Tochter und ich noch am selben Abend die Stadt. Es war eine gefährliche und komplizierte Reise mit Umwegen, die uns dann schliesslich in die Schweiz brachte.
Was geschah mit Ihren Kolleg*innen, die das Land nicht verlassen konnten?
Bereits als die Lage heikel wurde, hatten wir den Mitarbeiter*innen mitteilen können, dass ihr Lohn dank Spenden für ein Jahr gesichert sei. Wir hatten auch eine Liste der Mitarbeiter*innen erstellt, die besonders gefährdet waren. Wer sich nicht mehr sicher fühlte, versuchte, das Land zu verlassen. Einige reisten mit den Evakuierungsflügen aus, nachdem Kabul gefallen war. Aber es gab und gibt immer noch Leute, die nicht ausreisen konnten. Wir tun alles, um ihnen zu helfen.
Ich musste meine offizielle Arbeit für WAW zwar beenden; aber ich helfe so gut wie möglich von der Schweiz aus den Kolleg*innen, die das Land verlassen mussten. Sei es, dass ich finanzielle Unterstützung organisiere oder dass ich meine Netzwerke zum Beispiel für die Erteilung von Ausreisegenehmigungen anzapfe.
Auch meine Geschwister und meine Eltern konnten Afghanistan verlassen, meine Eltern sind in einer Asylunterkunft in München. Das ist für sie nicht einfach, es sind ältere Leute und sie sind von ihren Kindern getrennt.
Welche Unterstützung erhoffen Sie sich von der Schweizer Regierung?
Von der Schweiz als einem reichen Land mit einer humanitären Tradition erhoffe ich mir, dass sie die internationalen Organisationen vor Ort unterstützt. Viele Frauen und insbesondere die Aktivistinnen sind deprimiert, weil sie regelrecht in einem Gefängnis sitzen. Ihnen könnte man mit humanitären und Bildungsprojekten helfen, damit sie sich weiter für die Frauen in Afghanistan einsetzen können. Die Zivilgesellschaft muss unbedingt gestützt werden.
Ausserdem sollten Studentinnen die Möglichkeit erhalten, ihr Studium im Ausland fortzusetzen. Und Menschen, die in Gefahr sind, sollten rasch humanitäre Visa erhalten.
Auf internationaler Ebene hoffe ich, dass die Schweiz die Bestrebungen unterstützt, die Taliban vor den internationalen Gerichtshof zu bringen. Denn sie haben schlimme Menschenrechtsverletzungen begangen, vor allem an Frauen.