Die Bürgerrechtsbewegung in den USA feierte Erfolge, weil es Martin Luther King Jr. gelang, Verbündete aus verschiedenen Gesellschaftskreisen für seine Anliegen zu gewinnen. © KEYSTONE/EVERETT COLLECTION/Str
Die Bürgerrechtsbewegung in den USA feierte Erfolge, weil es Martin Luther King Jr. gelang, Verbündete aus verschiedenen Gesellschaftskreisen für seine Anliegen zu gewinnen. © KEYSTONE/EVERETT COLLECTION/Str

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2023: Recht auf Protest Die ungebrochene Kraft von Protesten

Essay von Natalie Wenger. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2023.
Weltweit gehen Menschen auf die Strasse, um ihre Rechte oder Veränderungen einzufordern oder um gegen Ungerechtigkeiten zu demonstrieren. Oft sind die Proteste vergeblich und manche Bewegung stirbt nach kurzer Zeit wieder. Andere haben erst nach Jahrzehnten Wirkung. Was macht einen erfolgreichen Protest aus?

Als Mahatma Gandhi am 12. März 1930 seinen berühmten Salzmarsch antrat, konnte er nicht ahnen, welchen Einfluss er auf die Geschichte Indiens und der Welt ausüben würde. 240 Meilen weit marschierte er mit seinen Anhänger*innen bis zum Arabischen Meer, um Salz zu sammeln – eine den Inder*innen damals verbotene Tätigkeit. Gandhis Art des Protests beinhaltete viele Faktoren, die den Erfolg begünstigten: Der Salzmarsch war gewaltfrei, bekämpfte eine Ungerechtigkeit, unter der Tausende litten, und hatte ein erreichbares Ziel. Die Teilnahme am Marsch war allerdings riskant: Mehr als 60 000 Inder*innen wurden wegen des Verstosses gegen das Salzgesetz verhaftet. Doch der Protest hatte Erfolg: Gandhi wurden Verhandlungsrechte zugestanden, er wurde zur ernstzunehmenden politischen Kraft, das Salzgesetz wurde gelockert. Dieser Protest inspirierte Bewegungen auf der ganzen Welt. So etwa den Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit von 1963, an dem Martin Luther King Jr. seine berühmte Rede «I Have a Dream» hielt – einer der Höhepunkte der Bürgerrechtsbewegung in den USA, die schliesslich zur Abschaffung der Segregation führte.

Doch nicht alle Proteste sind erfolgreich. Gerade in Ländern mit undemokratischen Strukturen werden sie oft äusserst brutal niedergeschlagen, so etwa die Demokratiebewegung in China in den 1980ern, die nach dem Tiananmen- Massaker abrupt endete. Während des Arabischen Frühlings marschierte etwa ein Drittel der Bürger*innen Bahrains monatelang. Doch anstatt einzulenken, reagierte die Regierung mit Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen und brachte die Demonstrationsbewegung so zum Erliegen. Die Proteste der syrischen Opposition endeten gar in einem blutigen Bürgerkrieg. Auch die Occupy-Wall-Street-Bewegung von 2011, die gegen die Macht der Finanzelite demonstrierte, wurde nach rund zwei Monaten von der Polizei auf nicht immer sanfte Weise aufgelöst, ohne dass sie ihre Ziele erreicht hätte – die Ungleichheit hat sich seither gar verschärft.

Die Grösse machts

Obwohl mancher Opposition mit Repression begegnet wird, gehen viele Menschen weiterhin auf die Strasse, manche riskieren dabei ihr Leben. Sie demonstrieren weiter, weil sie die Hoffnung haben, dass eine Veränderung möglich ist, und weil sie um die Kraft des Protests wissen.

Für den Erfolg gibt es kein einfaches Rezept, doch es gibt gewisse Faktoren, die ihn begünstigen. Wo-bei die politischen Auswirkungen selten direkt messbar sind, da sie oft erst Jahre später sichtbar werden. Eine Studie der Harvard-Universität kommt zum Schluss, dass nichts so wirkungsvoll ist wie die direkte Kommunikation auf der Strasse, um politische Entscheidungen von unten her zu beeinflussen. Laut den Forscher*innen haben gut besuchte Proteste vor allem Wirkung auf unentschlossene Wähler*innen und können so zu Veränderungen in der Politik führen. Allerdings gelinge dies nur, wenn genug Menschen teilnehmen: je grösser die Proteste, desto grösser die Aufmerksamkeit der Medien, desto grösser der Einfluss auf die Öffentlichkeit.

Sebastian Haunss, der an der Universität Bremen Protestbewegungen untersucht, nennt in einem Interview mit dem «Spiegel» zwei wesentliche Erfolgsfaktoren: Einerseits müsse das Thema für Mehrheiten attraktiv oder von Bedeutung sein und verschiedene Interessensgruppen ansprechen. Das Ziel sollte sein, auch passive Unterstützer*innen und neutrale Gruppen auf die eigene Seite zu bringen. In der Bürgerrechtsbewegung gelang dies Martin Luther King Jr., indem er zunächst die Schwarze Bevölkerung im Süden mobilisierte und später dann die Weissen im Norden an Bord holte.

Andererseits müsse die Mobilisierung gut geplant und kommuniziert werden, online wie offline, sagt Sebastian Haunss. Erfolgreiche Proteste können ein Thema setzen und bestimmen, wie darüber gesprochen wird. Die Black-Lives- Matter-Bewegung erreichte, dass 2020 76 Prozent der US-Amerikaner* innen Rassismus für ein grosses Problem hielt – ein Anstieg um 26 Prozent gegenüber 2015. Zudem fordern nun selbst konservative Kreise gewisse Reformen der Polizei – etwas, das zuvor unvorstellbar gewesen wäre.

Nicht nur das Thema eines Protests ist entscheidend, er braucht auch klare Ziele. Gandhi wollte die Unabhängigkeit für Indien. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA wollte das Ende der gesetzlich festgeschriebenen Segregation. Das waren klar definierte Ziele, auf die mit einer klaren Strategie hingearbeitet werden konnte. Erfolglosen Bewegungen, wie Occupy Wall Street fehlt es oft daran. Der Journalist Joe Norcera schrieb in der «New York Times», Occupy hätte «eine Menge Beschwerden, die sich hauptsächlich gegen die ‹unterdrückerische› Macht der Unternehmen richteten, aber sie kamen nie über ihre eigenen Slogans hinaus».

Perspektiven anbieten

Nur auf das Schlechte hinzuweisen, reicht demnach nicht aus – eine Protestbewegung muss darlegen, wie die Ziele erreicht werden könnten. Sollen Veränderungen innerhalb eines Systems erreicht werden, müssen die Menschen davon überzeugt werden, Politiker* innen zu wählen, die sich langfristig für die Sache einsetzen. Erfolgreichen Protestbewegungen gelingt es, andere davon zu überzeugen, sich ihnen anzuschliessen. Dazu gehört auch, Institutionen für sich zu gewinnen, die den angestrebten Wandel umsetzen helfen, also die Medien, die Polizei, Regierungsbehörden, NGOs, Bildungsinstitutionen.

Dies gelang beispielsweise der #MeToo-Bewegung sehr gut, indem Millionen von Frauen dem #MeToo-Aufruf folgten. Es entstand eine globale Bewegung, die von den Medien, aber auch von immer mehr Politiker*innen aktiv unterstützt wurde. In vielen Ländern wird nun offener über sexualisierte Gewalt gesprochen, Gesetze wurden angepasst und der Schutz von Frauen wurde ausgeweitet. Gewerkschaften und Frauenrechtsgruppen kämpften für ein neues internationales Abkommen zum Schutz vor Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz. Und in der Schweiz wird nicht nur im Parlament über eine Sexualstrafrechtsreform debattiert.

Wut allein reicht nicht

Meist haben laut einer Studie der Harvard Universität vor allem friedliche Proteste Erfolg. Wer zu Gewalt greift, verliert schnell an Ansehen in der Öffentlichkeit und macht sich selbst zur Zielscheibe. Wut allein reicht nicht, es muss glaubhaft die Hoffnung vermittelt werden, dass Veränderung möglich ist. Langfristig funktionieren Proteste, wenn sie die Legitimität der Mächtigen untergraben können. Regierungen stürzen, wenn sie den Rückhalt verlieren, wenn sich die Polizei und Militärs gegen die Machthaber*innen wenden. Legitimität, nicht Repression, ist die Grundlage für eine widerstandsfähige Regierung. Die Menschen können gezwungen werden, sich zu fügen. Aber es ist beinahe unmöglich, Menschen den Enthusiasmus, die Energie und die Kreativität aufzuzwingen, die es braucht, um ein politisches System auf Dauer aufrechtzuerhalten.

Nicht zuletzt wirken Proteste auch deshalb, weil sie in den Teilnehmer*innen selbst etwas auslösen. Proteste sind oft der Ausgangspunkt, der lebenslangen Aktivismus nach sich zieht. Und Aktivismus verändert unsere Gesellschaft.