© André Gottschalk
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MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2023: Carte blanche Eine verdrängte Realität

Von Yusuf Yesilöz. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2023.
Der Alltagsrassismus in der Schweiz wird zwar immer wieder thematisiert. Er ist aber noch immer ein Randthema, sagt der Schriftsteller Yusuf Yesilöz.

Die Fachstelle gegen Diskriminierung und Rassismus von humanrights.ch veröffentlichte kürzlich Zahlen: Der Fachstelle wurden im Jahr 2022 über 700 Fälle gemeldet – fast 80 Fälle mehr als im Jahr zuvor. Alarmierend für mich ist, dass die Fälle sich im Bereich Arbeit und Bildung ereignet haben, also dort, wo sich die Schweiz eigentlich der Chancengleichheit verschrieben hat. Der erschwerte Zugang zum Arbeitsmarkt, aber auch die diskriminierende Einbürgerungspraxis werden von der Fachstelle zu Recht als struktureller Rassismus bezeichnet.

Als Zuwanderer fühle ich mich vom Bericht angesprochen. Ich bin nicht jeden Tag Opfer einer diskriminierenden Begegnung, auch nicht jeden Monat. Aber es kommt immer wieder vor, und zwar oft unerwartet, im anonymen Raum. Was mich auch gestört hat, ist, dass solche schmerzhaften Erfahrungen vor allem von Nicht-Betroffenen nicht hinterfragt, ja sogar verharmlost werden. Erzählte ich von einer solchen Begegnung, wurde diese zwar als störend empfunden, aber auch bemerkt, dass es diesen Leuten, die einen diskriminierten, vielleicht nicht gut gehe und dass sie im Leben zu kurz gekommen seien. So betrieben zum Beispiel die zwei Grenzbeamten in Chiasso, die im aus Mailand kommenden Zug nur den südländisch aussehenden Mann kontrollierten – der sich mit einer Schweizer Identitätskarte auswies – nicht etwa «racial profiling». Und der Mann, der im oberen Stock des Bürohauses, in dem ich arbeitete, wohnte, und der meine Mitarbeiterin im Treppenhaus fragte: «Ghört de eu?», hatte halt einfach einen schlechten Tag.

Viele Leute in der Schweiz sind überfordert mit der Frage, wie mit dem Thema Rassismus umzugehen ist.

Viele Leute in der Schweiz sind überfordert mit der Frage, wie mit dem Thema Rassismus umzugehen ist. Die Grenzen zwischen diskriminierendem und nicht diskriminierendem Verhalten können fliessend sein, vieles findet in einem Graubereich statt. Vor wenigen Wochen wurde ich in der S-Bahn nach Zürich Zeuge einer typischen Situation: Die Lehrerin, die mit einer Schulklasse reiste, fragte im Gang der vollen S-Bahn den knapp zehnjährigen Knaben, ob er ihr erklären könne, warum er und seine Eltern kein Schweinefleisch essen würden. Das Kind geriet in Erklärungsnot, versuchte ihr aber dennoch eine Antwort auf die Frage zu geben, warum dieses Fleisch verboten sei. Ich fragte mich nur, ob diese freundliche Lehrerin keinen intimeren Raum hätte wählen können, um ihre Wissbegier zu stillen.