Benafsha Efaf an der Preisverleihung. © Somazzi-Stiftung
Benafsha Efaf an der Preisverleihung. © Somazzi-Stiftung

Afghanistan Laudatio für Benafsha Efaf

17. April 2023
Am 17. März 2023 erhielt die afghanische Anwältin und Frauenrechtsaktivistin Benafsha Efaf in Bern den Somazzi-Preis. Die Laudatio wurde von Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz, gehalten.

Benafsha war erst zehn Jahre alt, als sie beschloss, sich für die Rechte der Frauen in ihrer Heimat einzusetzen. Ihre Nachbarin in Kabul liess sich damals von ihrem Mann scheiden. Der geschiedene Mann heiratete erneut und lebte sein neues Leben, akzeptiert von Freunden und der afghanischen Gesellschaft. Die geschiedene Frau, eine gut ausgebildete und bis dahin geachtete Ärztin, verlor die Unterstützung ihrer Familie, ihrer Freunde und Nachbarn, sie büsste ihren sozialen Status ein. Fortan war sie nur noch «die geschiedene Frau». Sie wurde bestenfalls mit Mitleid bedacht, meist aber ausgegrenzt.

Benafsha konnte weder verstehen noch wollte sie akzeptieren, dass eine Frau so etwas erdulden muss. Deshalb nahm sie sich schon als Mädchen vor, gegen diese Ungerechtigkeit anzukämpfen und sich für Gleichberechtigung und den Schutz von Frauen einzusetzen. Als sie 16 Jahre alt war, unterstützte sie Überlebende von häuslicher Gewalt. Die meisten Frauen, die Hilfe und Schutz brauchten, hatten wenig oder keine Schuldbildung und wussten nicht, was sie tun sollten. Benafsha half, eine sichere Unterkunft für sie und ihre Kinder zu finden, unterstützte bei der Erledigung von Formalitäten und arbeitete als Lehrerin. Sie und ihre Mitstreiter*innen starteten dieses Projekt, um die Frauen in die Unabhängigkeit zu begleiten.

Jetzt ist Benafsha 38 Jahre alt, Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin. Sie musste aus Afghanistan fliehen, weil sie von den Taliban mit dem Tod bedroht wurde. Jetzt lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Zentralschweiz. Seit September wurde ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Benafsha hat mir erzählt, dass sie nicht nur ihr Land, ihre Familie und ihre Freunde verloren hat, sondern auch ihre Identität. Jetzt sei sie ein Flüchtling, eine «Ausländerin», jemand, der geduldet und nicht akzeptiert wird. Sie fange bei «Null» an, lerne eine neue Sprache, passe sich einer neuen Kultur an. Sie sei von ihren Eltern und ihren sechs Geschwistern getrennt, die alle in verschiedenen Ländern aufgenommen wurden. Sie könne nicht reisen, um sie oder andere afghanische Aktivist*innen zu treffen, sie dürfe nicht als Anwältin arbeiten. Das Schlimmste aber sei für sie, dass sie die Frauen und Kinder, die ihre Unterstützung brauchen, zurücklassen musste.

Als Benafsha an der Universität in Kabul Jura studierte, sah die Welt in Afghanistan noch anders aus. Frauen und Mädchen konnten zur Schule gehen und eine höhere Ausbildung geniessen, sie konnten als Ärztinnen, Professorinnen und Anwältinnen arbeiten. Die Gesellschaft war noch immer konservativ und paternalistisch, die Frauen weit von der Gleichberechtigung entfernt, aber es gab sichtbare Fortschritte bei den Frauenrechten. Diese wurden auch in neuen Gesetzen verankert. Richterinnen, Journalistinnen, Aktivistinnen, Politikerinnen und Ministerinnen verteidigten diese Errungenschaften. Es gab ein Ministerium für Frauenrechte, Gewalt gegen Frauen wurde strafrechtlich verfolgt und geahndet.

Benafsha begann während ihres Studiums für eine internationale NGO, Medica Mondiale, zu arbeiten und wechselte später zu der NGO «Frauen für afghanische Frauen» (Women for Afghan Women - WAW). Diese Organisation konzentriert sich auf die Bedürfnisse von Gewaltopfern und bietet Hilfe in allen Lebensbereichen an, von der Unterbringung über Bildung bis hin zu rechtlichem Beistand. Die Frauen, die in Afghanistan Opfer von Gewalt werden, haben oft keinen Ort, wo sie hingehen können, sagte mir Benafsha. Sie bekommen keinerlei Unterstützung durch ihre Familien, haben kein Geld und keine Zukunft. Deshalb braucht es schnelle und unbürokratische Hilfe.

Für eine Frauenrechtsorganisation wie WAW zu arbeiten war in Afghanistan auch vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 nicht einfach. Benafsha und ihre Kolleginnen wurden von verschiedenen islamistischen Gruppierungen angefeindet und bedroht, unter anderem auch von Mitgliedern des sogenannten islamischen Staates. Doch sie liessen sich nicht einschüchtern und setzten ihre gefährliche Arbeit fort. In der Community, der afghanischen Gemeinschaft, wurde ihre Arbeit jedoch akzeptiert und unterstützt.

WAW schuf 33 Frauenhäuser, sogenannte «Safe Houses» für Frauen in Gefahr. Die WAW-Aktivistinnen vertraten Frauen vor Gericht und boten Unterstützung im Alltag. Zudem sorgte WAW dafür, dass auch 6 Kinderbetreuungszentren entstanden. Kinder erhielten von der Regierung oder den Behörden keinerlei Schutz, wenn ihre Mütter beispielsweise verhaftet wurden und ins Gefängnis mussten. Sie wurden einfach mit eingesperrt, ohne Aussicht auf Betreuung oder Schulbildung. Das haben Benafsha und ihr Team geändert. Sie holten als einzige Organisation in Afghanistan alle Kinder im gesamten Land aus den Gefängnissen und boten ihnen eine sichere Umgebung. Neben den Frauenhäusern und Kinderzentren wurden auch noch Übergangsheime geschaffen, in denen Frauen nach einer Haftstrafe unterkommen konnten und Unterstützung erhielten, denn sie wurden von der afghanischen Gesellschaft geächtet. Das WAW-Team half ihnen, Beziehungen zu ihren Familien wieder aufzubauen und in ein unabhängiges Leben zurückzukehren.

Jetzt, unter der Herrschaft der Taliban, ist diese Arbeit unmöglich. Benafsha und ihr Team haben es über ein Jahr lang versucht. Doch dann stürmten die Taliban im vergangenen Sommer die Büros der NGO in Kabul, machten Fotos, beschlagnahmten Daten und Material und beschuldigten die Aktivist*innen und Anwält*innen, westliche Kultur etablieren zu wollen. Benafsha und ihre Familie mussten sich verstecken, weil sie um ihr Leben fürchteten. Ihr Name steht auf der Todesliste der Taliban. Es gab keinerlei Schutz mehr für sie. Ihr erster Versuch, das Land über Kundus nach Tadschikistan zu verlassen, scheiterte – der Konvoi wurde an einem Checkpoint von den Taliban gestoppt. Nach Tagen des Terrors und der Angst konnte sie im September letzten Jahres mit einem Evakuierungsflug aus Masar-e-Sharif ausreisen und kam am 9. Oktober in der Schweiz an.

Es ist mir eine grosse Freude, hier anlässlich der Verleihung des Somazzi-Preises 2023 eine Rede zu Ehren von Benafsha und all den anderen mutigen Frauenrechtlerinnen auf der Welt zu halten, die ihr Leben der Förderung und dem Schutz der Rechte anderer widmen - trotz des Risikos für ihr eigenes Leben und aller Konsequenzen, die ein solcher Einsatz mit sich bringt. 

Benafsha sagte mir, dass es schon unter normalen Umständen schwierig sei, sein Heimatland zu verlassen. Aber zu fliehen, um sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen und viele der Frauen und Kinder zurücklassen zu müssen, die ihre Unterstützung brauchen, sei noch schlimmer. Sie sehe bislang keine ernsthaften Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, wirkungsvolle Schritte zu unternehmen, um die Situation der Frauen und Mädchen in Afghanistan zu verbessern. Sie seien einfach zurückgelassen und vergessen worden.  

Frauen in aller Welt, lasst uns den Stimmen der afghanischen Frauen Gehör verschaffen. Setzen wir uns für die Frauen ein, damit sie ihre Grundrechte, ihre politischen Rechte und ihre sozialen Rechte wie Bildung und Gesundheitsversorgung wahrnehmen können. Lasst uns den Druck auf die internationale Gemeinschaft aufrechterhalten, damit etwas passiert.  

Nur zur Erinnerung:

  • in Afghanistan dürfen Frauen nicht ohne männliche Begleitperson reisen
  • es ist ihnen untersagt, in einem Park spazieren zu gehen, Sport zu treiben oder ein Fitnessstudio zu besuchen
  • Mädchen dürfen nicht zur Schule gehen oder eine Universität besuchen
  • Frauen dürfen nicht für eine NGO arbeiten

Wir sollten auch die Schweizer Regierung auffordern, für den Schutz von Mädchen und Frauen in Afghanistan einzustehen. Die humanitäre Hilfe für die leidende Bevölkerung muss wieder aufgenommen werden. Und in der Schweiz müssen Strukturen geschaffen werden, damit sich Menschen, die aus ihren Ländern fliehen müssen, willkommen und unterstützt fühlen und ihre Ressourcen und Kompetenzen einsetzen können, auch, um unsere Gesellschaft zu verbessern. 

Wir können stolz und glücklich sein, dich, Benafsha, bei uns zu haben: eine so starke und mutige Frau, eine engagierte Aktivistin, Expertin für Frauenrechte und Anwältin. Du bist eine Inspiration und ein Vorbild für uns alle. Wir freuen uns über die Möglichkeit, Dich kennenzulernen, Dir zuzuhören und von Dir zu lernen. Wir sind mehr als glücklich, Deine wichtige Arbeit zu unterstützen.

Herzlichen Glückwunsch, liebe Benafsha. Ich teile Deine Hoffnung, dass Afghanistan, ein Land, das ich in den letzten 20 Jahren so oft bereist habe, wieder ein freies und friedliches Land werden wird.